„Wandersehnsucht reißt mir am Herzen…“ – Hermann Hesses „Wanderung“

Hermann_Hesse_1927_Photo_Gret_WidmannDieser Beitrag enthält Affiliatelinks, die mit einem * gekennzeichnet sind.

Wandersehnsucht reißt mir am Herzen, wenn ich Bäume höre, die abends im Wind rauschen (S. 21)

Dies war der erste Satz, den ich aus Hesses Wanderung* je gelesen habe. Seither hat mich das kleine Büchlein nicht mehr losgelassen. Letztendlich inspirierte es mich auch zum Titel meines Blogs.

Es ist kein eigentlicher Reisebericht, den Hesse über seine Aufenthalte im Tessin zwischen 1916 und 1918 schreibt. Zwar sind die Orte, von denen er erzählt, offenbar rekonstruierbar (S.745), doch hält er sich nicht mit Daten und Fakten auf; er beschreibt Stimmungen und Atmosphären, wie sie in ihm und um ihn herum aufkommen, verschwinden und sich wandeln, als er vom „deutschen“ Norden in den „italienischen“ Süden wandert.
So setzt das Büchlein ein mit den Sätzen:

Bei diesem Hause nehme ich Abschied. (…) Denn ich nähere mich dem Alpenpaß, und hier nimmt die nördliche, deutsche Bauart ein Ende, samt deutscher Landschaft und deutscher Sprache. Wie schön ist es, solche Grenzen zu überschreiten. (S. 7)

Hesses Italienbild erinnert an die Italiensehnsucht früherer Zeiten – und das ist ihm auch durchaus bewusst: Der Süden „atmet geheimnisvoll aus bläulichen Tälern herauf! (…) Ahnung von Seen und Gärten, Duft von Wein und Mandel weht herauf, alte heilige Sage von Sehnsucht und Romfahrt.“ (S.10) Dabei ist er keineswegs mehr der schwärmerische Jüngling, der er bei seiner ersten Italienfahrt war. Der Rausch sei verschwunden, schreibt er, doch er genieße das „heraufduftende Lande“ (S.10) nun mit feineren, auch reiferen Sinnen. Und er kommt zu dem Schluss: „Die Welt ist schöner geworden seit damals.“ (S.10)

„Dass ich Nomade bin und nicht Bauer …“

Tatsächlich ging der Entstehung dieser Reisenotizen eine Wandlung in Hesses Leben voraus. Er nimmt nicht nur Abschied von deutschen Landen und deutscher Sprache – er nimmt auch Abschied von einem Lebensabschnitt, von seiner „bisher bürgerlich sesshaften Existenzform als Familienvater“ (Volker Michels, S. 744). Und das ist die Ebene, die mich in diesem Buch besonders berührt und bewegt hat. Neben der tatsächlichen Wanderung durch die Lande, die Idee der Lebenswanderung, der Existenzform des Vagabundierens, des Nicht-Sesshaften. Dies ist es, worüber Hesse unentwegt philosophiert, als er nach seinem und durch sein Sehnsuchtsland zieht.

Wer Narziss und Goldmund* gelesen hat und Hesses Gedicht „Gegenüber von Afrika“ kennt, weiß um dieses Gegensatzpaar, das auch hier wieder auftaucht: Auf der einen Seite der Bürgerlich-Sesshafte, der weiß, wo sein Platz ist, der Heimat hat. Auf der anderen Seite der rastlos nie Rastende, der von Sehnsucht getriebene Vagabund und Wanderer, der heute hier, morgen dort ist.
Hesse hatte versucht, die eine Rolle zu spielen, die des sesshaften Bürgers, – und ist gescheitert:

Wohl dem Besitzenden und Seßhaften, dem Treuen, dem Tugendhaften! Ich kann ihn lieben, ich kann ihn verehren, ich kann ihn beneiden. Aber ich habe mein halbes Leben daran verloren, seine Tugend nachahmen zu wollen. Ich wollte sein, was ich nicht war. Ich wollte zwar ein Dichter sein, aber daneben doch auch ein Bürgern (…). Lange hat es gedauert, bis ich wußte, daß man nicht beides sein (…) kann, daß ich Nomade bin und nicht Bauer, Sucher und nicht Bewahrer. (S. 7f)

Hesse ist der „Nomade“, der Vagabund, der Wanderer, der Nicht-Sesshafte, heute hier, morgen dort lebend und doch immer irgendwie davon träumend, sich eines Tages niederzulassen und seinen Frieden zu finden. „Süß der Schlummer unter eigenem Dach“, schreibt er in „Gegenüber von Afrika„. In „Wanderung“ heißt es:

Mein Leben (…) schwebt zuckend zwischen vielen Reihen von Polen und Gegenpolen. Sehnsucht nach Daheimsein hier, Sehnsucht nach Unterwegssein dort. (S. 33)

Er sitzt vor Häusern und fabuliert, wie es wohl wäre, dort zu leben. Wie wäre es, wenn er hier, in diesem Häuschen, als Pfarrer wohnte? Er weiß, dass er auch dann „aus dem Fenster mit Neid und Sehnsucht zu den Wanderern“ (S.17) herausschauen würde, wie er jetzt durch die Fenster mit Sehnsucht hineinsieht. Er wäre letztendlich doch „derselbe unstete und harmlose Wanderer wie jetzt“ (S.17), denn „es ist nicht meine Sache, mich anders zu machen. Das ist Sache des Wunders. (…) Meine Sache ist, zwischen vielen gespannten Gegensätzen zu schweben und bereit zu sein, wenn das Wunder mich ereilt. Meine Sache ist, unzufrieden zu sein und Unrast zu leiden.“ (S.34)

Hermann Hesses „Wanderung“ und ich

Hesses „Wanderung“, dieser schmale Band, schlug gleich mehrere Saiten bei mir an. Manches hatte ich ähnlich – wenn natürlich auch nicht mit Hesses Poesie – seit Jahren in meinen Tagebüchern stehen. Als ich Wanderung zuerst las, war ich außerdem gerade selbst in einer Umbruchphase: ich war dabei, Wien zu verlassen, wo ich fast sechs Jahre gelebt hatte. Hätte man mich ein Jahr zuvor gefragt, hätte ich gesagt, dass ich mich dort gerne – zumindest noch für eine ganze Weile – niederlassen würde. Nun zog es mich weiter. Genaugenommen ging es erst einmal zurück in die Heimat, dorthin „wo alles angefangen hatte“, könnte man sagen. Ich hatte das unbestimmte, nicht in Worte zu fassende Gefühl, dass ich nun als ich selbst zurückkehrte, dass mein „Umweg“ über Wien keine vergeudete Zeit, sondern notwendig war, um zu werden, die ich bin. Und dann las ich bei Hesse „Aber die Dornenwege waren nicht umsonst. Der Heimgekehrte ist ein anderer als der stets Daheimgebliebene.“ (S.25) Er hatte in dem ihm eigenen poetischen Stil in Worte gefasst, was ich wortlos gefühlt hatte.

Ich wusste allerdings auch, dass dieser Umzug mich wohl kaum ans Ende meiner Wanderung bringen würde. Wie Hesse auch fühlte ich mich als hätte ich einen viel zu großen Teil meines Lebens an den Versuch der Sesshaftigkeit verschwendet. Bis Mitte 20 lebte ich in meiner Heimatstadt. Gezwungenermaßen, sage ich normalerweise, um deutlich zu machen, dass ich das eigentlich nicht gewollt hatte. Aber es war wohl eher, weil ich mich durch die Umstände zwingen ließ. Der einmalige, einjährige Ausbruch nach Wien mit Anfang 20 zeigte mir nur, dass die bisherige Sesshaftigkeit nichts für mich war. Von da an war es auch meine Sache „unzufrieden zu sein und Unrast zu leiden“. In gewissem Sinne ist das bis heute so.
Und doch schwebt auch mein Leben zuckend zwischen den Polen: „Sehnsucht nach Daheimsein hier, Sehnsucht nach Unterwegssein dort.“
Meine Träume wechseln zwischen Wanderlust und dem Traum von „Heimathaben, ein kleines Haus im grünen Garten“ (S. 33). Wie viele kleine Häuschen habe ich in Gedanken nicht schon eingerichtet? Wie Hesse, der vor dem Pfarrhaus sitzt und schon weiß, wo er seine Muttergottes aufstellen möchte.

Mir geht es da tatsächlich wie ihm: Es ist die Sache des Wunders, meinetwegen des Schicksals, der Zeit oder der Zufälle, ob ich jemals anders, ob ich sesshaft und v.a. damit dauerhaft glücklich werde. Ich schließe es nicht aus und fände es auch nicht schlimm. Aber noch ist es nicht soweit und auch das finde ich nicht schlimm. Es ist einfach wie es ist.
Derweil gebe ich mich meinen Träumereien hin, denen vom Daheimsein und denen vom Unterwegssein. Und so lasse ich mich immer wieder einmal irgendwo ein bisschen nieder und fühle, wie mir Wandersehnsucht am Herzen reißt, wenn ich abends Bäume im Wind rauschen höre.

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Dieser Artikel schwebte mir schon lange im Kopf herum, ich wollte ihn seit Monaten schreiben. Endlich habe ich es geschafft, ihn zu Papier zu bringen!

Zuerst von Hesses Wanderung gelesen habe ich übrigens im Literaturtipp des SWR.

Hesses Wanderung gab es lange nur noch antiquarisch und im Rahmen der Gesamtausgabe, wobei allerdings seine Aquarellzeichnungen nicht aufgenommen wurden.
Vor einigen Jahren wurde „Wanderung“ einzeln neu aufgelegt! Inklusive Hesses Aquarellskizzen! Ihr könnt das Buch hier im Buchhandel bestellen oder auf Amazon.*

Zitate wurden entnommen aus:

Hesse, Hermann: Wanderung, in: Volker Michels (Hrsg): Hermann Hesse. Sämtliche Werke Bd. 11: Autobiographische Schriften 1, S. 5-35.
und

Michels, Volker: Nachwort zu Wanderung, in: Ebd., S. 744-746.

Das Bild Hesses habe ich aus den Wiki Commons übernommen. Sollte es wider Erwarten doch nicht gemeinfrei sein, bitte ich um Nachricht.

17 Gedanken zu “„Wandersehnsucht reißt mir am Herzen…“ – Hermann Hesses „Wanderung“

  1. ich habe noch viel zu wenig von hesse gelesen. ein sehr schöner und persönlicher text, den ich in vielen teilen gut nachvollziehen kann, wenn ich auch selber bisher wenig davon persönlcih erlebt habe. aber die gedanken, ja!

    • vielen Dank.
      Ich habe auch noch nicht so viel von Hesse gelesen. Lediglich Narziss und Goldmund und Wanderung, außerdem einige kurze Texte und v.a. viele seiner Gedichte.
      Am Steppenwolf bin ich allerdings gescheitert.

      • wirklich? der steppenwolf hat mich sehr fasziniert, aber siddharta war mein favorit. das kann ich dir sehr ans herz legen, falls du es noch nicht gelesen haben solltest, insbesondere wenn dich diese thematik des wanderns und „suchen statt bewahren“ interessiert.

      • Danke. Ich glaube, auch Demian passt zu dem Thema sehr gut. Werde mir mal wieder ein Hesse Buch zu Gemüte führen 🙂

  2. Liebe Ilona,

    ich habe gerade mal wieder bei dir reingeschaut und habe deinen Hesse-Artikel mit Begeisterung gelesen. Hesses „Wanderung“ kenne ich nicht, dafür aber viele seiner Romane. Seine Gedichte sind wunderbar. Für mich passte Hesse in kein Schema und war vor allem ein „unruhiger Geist“ – ein lebenskluger Schriftsteller und Dichter.

    Was mir an deinem Blog so gefällt, ist, dass du immer auch Literatur in deine Reisen und Impressionen einbettest – und die gewählten Zitate passen einfach hervorragend.

    Viele Grüße Rosa

    • Vielen lieben Dank, Rosa 🙂 Für mich gehört Literatur dazu. Wie oft lese ich Bücher, Gedichte, kurze Texte, um mich in Reisestimmung zu bringen oder in Erinnerung zu schwelgen!

      Ich habe tatsächlich gar nicht so viel von Hesse gelesen, in erster Linie seine Gedichte, aber Wanderung hat es mir am meisten angetan. Das ist einfach ein Buch, das mich wirklich berührt hat.

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