Sie führte der Sohn Kronions, Apollon,
und er hielt in den Händen die Leier und spielte so lieblich,
hoch und herrlich schritt er dahin; ihm folgte der Kreter
schallender Schritt gen Pytho, sie sangen ihm ehrende Hymnen,
wie man sie singt im Lande der Kreter, denen die hehre
Muse süßen Gesang ja selber gesenkt in die Seele.
Unermüdlich erklomm ihr Fuß die Höhen, sie kamen
eilends zum Parnass und zur lieblichen Stätte, wo künftig
Phoibos zu wohnen bestimmt, den viele Menschen verehren,
und es zeigte ihr Führer den heilig gesegneten Tempel.
Da in ihrer Brust begannen die Herzen zu schwellen…(Homerischer Hymnus an den Pythischen Apollon)
Wir erreichten Delphi am Abend, hatten eine längere Fahrt von der Peloponnes hinter uns und während wir den Berg hinauffuhren, eine Kehre nach der anderen nahmen, vor uns kein Ende der Serpentinen in Sicht, dachte ich an diesen Ausschnitt des Homerischen Hymnus: Unermüdlich erklomm ihr Fuß die Höhen.
Welche Mühe man auf sich genommen hat, um diese heilige Stätte zu erreichen – und um sie zu errichten.
Ich habe in Griechenland keine einzige Ausgrabungsstätte besucht, die nicht unfassbar schön gelegen und die mich nicht irgendwie berührt hätte. Auf Delphi hat uns allerdings nichts davon vorbereitet.
„… hoch und herrlich schreitet er hin, umleuchtet von hellem
Glanz, es schimmert das schöne Gewand und die blendenden Füße“
Der Morgen grüßte uns in Delphi mit einem Sonnenaufgang, wie er passender hätte nicht sein können. Der Himmel war blau, die Luft war frisch – und doch lag ein blauer Schimmer über allem, ein nie ganz klares Licht, das auf den Bildern jedem Ausblick in die Landschaft etwas mystisches verleiht. Und nichts wäre passender gewesen für diesen Ort. Ein klares Licht, das scharf jede Kontur umreißt hätte hier nicht zur Stimmung gepasst.
Zu Delphi gehört nicht nur Geschichte, zu Delphi gehören Mythos und Legende, Kulte und Rituale.
Als wir ankommen, hat die Ausgrabungsstätte gerade die Tore geöffnet. Es ist kurz nach 9 Uhr. Mit uns kommt ein Paar und eine Reisegruppe. Ich ziehe als erstes an der Gruppe vorbei. Die Gebäude am Eingang kann ich mir später noch in Ruhe ansehen. Mich zieht es zum Herzen der Anlage: Zum großen Tempel des Apoll, der auf einer eigens dafür errichteten Terrasse direkt im Zentrum des Heiligen Bezirks liegt.
Und dann stehe ich da, ganz allein, direkt vor dem Tempel, dem Sitz des – damals wie heute weltberühmten – Orakels von Delphi und bin erst einmal sprachlos. Ich kann es nicht fassen, dass ich wirklich hier stehe. Hier, an dem Ort, der für die antiken Menschen der Nabel der Welt war. Vor dem großen Tempel des Apoll.
Delphi gilt als die schönstgelegene Ausgrabungsstätte Griechenlands. Ich könnte nicht mit gutem Gewissen sagen, dass sie schöner liegt als Mykene oder Akrokorinth. Aber ich kann sagen, dass sie die Beeindruckendste war, die ich auf dieser Reise zu Gesicht bekommen habe. Nicht nur aufgrund der Schönheit ihrer Lage, der relativ guten Erhaltung der Bauwerke, sondern auch und besonders aufgrund ihrer Großartigkeit auf so vielen Ebenen.
Alles, was in der antiken Welt Rang und Namen hatte, kam irgendwann einmal hierher. Plutarch diente hier als Priester. Allein sich vorzustellen, wie viele große Männer diese Wege abgeschritten sind, ist erfurchteinflößend.
Mir scheint, die Verehrung, die diesem Ort über Jahrhunderte, ja eigentlich Jahrtausende, zuteil wurde, hat ihre Spuren hinterlassen, ist nach wie vor spürbar.
Die Geschichte der Kulte in Delphi
Bereits im 3./2. Jahrtausend vor Christus war diese Gegend besiedelt. Und lange vor dem Apolloheiligtum befand sich hier eine Kultstätte, in der die Erdmutter Gaia verehrt wurde. Ihre Erscheinungsform war die einer Schlage, der Pytho, von der auch die weissagende Priesterin Pythia ihren Namen hatte. Sie saß vor bzw. über einer Felsspalte, der berauschende Düfte entstiegen sein sollen. Wenn man bedenkt, dass dies das alte Heiligtum einer Erdgöttin war, macht dies Sinn, wenn die Weissagungen aus dem Erdinneren empfangen werden.
Erst um 1000 vor Christus kamen die Dorier in das Land am Parnassos-Gebirge und brachten auch ihre Götter mit. Einer davon war Apoll.
Wie in vielen Epochen, in denen ein Pantheon einen anderen ersetzt oder verdrängt, gibt es auch bei den Griechen die Idee eines Kampfes. Bei den Germanen kämpfen Asen gegen Vanen, bei den Griechen die Titanen gegen die Olympier. In beiden Fällen war es keine komplette Verdrängung, sondern eine gewisse Durchmischung. So wurden Götter der alten Generation durchaus weiterhin verehrt, in die neue Göttergeneration eingegliedert, andere Götter wurden mit den älteren in Verbindung gebracht, mit ihnen gleichgesetzt oder verschmolzen mit ihnen – etwa Apoll mit dem Sonnengott, dem Titan Helios – und auch im Kleinen gab es Sagen von Kämpfen alter und neuer Götter. Für Delphi bedeutete das die Umdeutung der Pytho-Schlange. In der Version des Homerischen Hymnus lautet die Geschichte so:
„Nahe dabei fließt schön ein Quell. Der Herrscher Apollon
tötete dort die Drachin mit seinem gewaltigen Bogen,
ein gar riesiges, feistes und wildes Untier, das vieles
Elend erschuf den Menschen im Lande, vielen von ihnen
und auch stelzenden Schafen in Menge, ein blutiger Schrecken.
(Die empfing dort einst von der goldthronenden Here
den Typhaon, das grause und wilde Elend der Menschen,
den einst Here geboren im Zorn auf Vater Kronion,
weil er aus eigenem Haupt die gepriesene Göttin Athene
einst gebar. (…)
Gleich zu beten begann die dunkelhäutige Here,
und sie schlug mit flacher Hand die Erde und flehte:
‚Höret mich jetzt, du Erde, du weiter Himmel darüber,
auch ihr Göttertitanen, die drunten die Tiefe bewohnen
in des Tartaros Weiten, ihr Usprung der Götter und Menschen,
höret mich alle zusammen und schafft mir ohne Kronion
einen Sohn, der nicht an Stärke geringer als jener; (…)
Rief’s, und mit starker Hand schlug auf die Erde die Göttin,
dass der nährende Boden erbebte (…)
Da gebar sie (…) den Typhaon, das grause und wilde Elend der Menschen.
Gleich ergriff ihn Here, die heilige, dunkelgeäugte,
und brachte das Übel zum Übel: die Drachin empfing es,
und viel Elend schuf Typhaon den Sippen der Menschen.)
Wer der Drachin nahte, den raffte der Tag des Verderbens,
ehe mit seinem starken Geschoss der Schütze und Herrscher
Phoibos [Apollon] sie traf…“
Hera, Gattin des Zeus, ist eifersüchtig, da dieser ohne ihr Zutun eine Tochter geboren hat: Die Göttin Athene. Nun möchte sie es ihm gleichtun und bittet die Titanen (!) und die Erde (also Gaia!) um diese Gunst. Das Ungeheuer Typhon bringt sie dann zur Pflege zur Drachin Pytho. In den meisten Versionen der Typhon-Sage ist übrigens Gaia selbst die Mutter des Ungeheuers, die sich damit für die Niederlage der Titanen gegen die Olympier rächen möchte. (Wen es interessiert: mehr zur Typhon-Sage gibt es hier) In anderen Versionen der Geschichte war es auch Pytho, die Leto, Mutter des Apoll, verfolgte, als sie mit ihm und seiner Schwester Artemis schwanger war. Hera wollte verhindern, dass ihre Widersacherin Kinder von Zeus zur Welt brachte. Der Plan scheiterte und Apoll rächte sich an Pytho für die Bedrohung seiner Mutter.
Details des berühmten Wagenlenkers von Delphi, ein Weihegeschenk aus dem 5. Jhd. v. Chr.
Die Orakelsprüche der Pythia
Das Schatzhaus der Athener und rechts im Bild der „Fels der Sibylle“, der alte Ort des Orakels, bevor es ins Tempelinnere verlegt wurde
Trotz der nun männlichen Priesterschaft – laut des Homerischen Hymnus warb Apollon dafür Kreter an – blieb die wichtigste Funktion erhalten: Die Priesterin – nun eine Priesterin des Apoll – Pythia, die nach wie vor über einer Felsspalte saß und von Dämpfen berauscht Weissagungen kundtat.
Geweissagt wurde anfangs nur einmal im Jahr – am Geburtstag des Apoll. Später nur in den Sommermonaten, denn nach mythologischer Vorstellung war Apoll nur im Sommer anwesend. Im Winter weilte er bei den Hypoboreern und überließ sein Haus in Delphi dem Gott Dionysos – der weit mehr war, als nur der „Gott des Weines“ und dessen Grab sich im Tempel in Delphi befand.
Dabei waren die Orakelsprüche alles andere als eindeutig. Bekannt geworden ist der Orakelspruch, den König Krösus erhielt, als er um Rat für einen bevorstehenden Kriegszug gegen die Perser ansuchte: Wenn er den Fluss Halys überschreite, werde er ein großes Reich zerstören. Er glaubte, damit sei das Perserreich gemeint – in Wirklichkeit zerstörte er sein eigenes.
Die Orakelsprüche mussten also immer interpretiert und gedeutet werden. Und waren dabei doch nicht zu verhindern – im Gegenteil: Der Versuch, dem Schicksal zu entgehen führte erst zu dessen Erfüllung. Der Vater des Ödipus etwa erhielt die bekannte Warnung, sein Sohn werde einst ihn töten und seine eigene Mutter ehelichen. Um das zu verhindern wurde das Kind ausgesetzt und damit dem Tod preisgegeben. Doch das von Apollo weisgesagte Schicksal ließ sich nicht austricksen: Ödipus überlebte, tötete als Erwachsener unwissentlich seinen ihm natürlich unbekannten Vater und ehelichte dessen Witwe – seine eigene Mutter.
Das Ende des Orakels
Im 4. Jahrhundert nach Christus war das Ende des großen Orakels gekommen. Mit dem Heiden-Edikt des Kaisers Theodosius im Jahr 381 n.Chr. wurde es endgültig geschlossen.
Der letzte überlieferte Orakelspruch richtete sich 362 n.Chr. an Kaiser Julian. Da die Sieger bekanntlich die Geschichte schreiben, bekam Julian den Beinamen „der Abtrünnige“, denn in einer Zeit, als die römischen Kaiser längst Christen waren, hielt er am alten Glauben fest. Er bemühte sich, dem Heidentum wieder zur Vormachtstellung im Reich zu verhelfen und das seit Konstantin „dem Großen“ (wie gesagt, Beinamen verraten v.a. etwas über die, die sie vergeben) begünstigte Christentum zurückzudrängen. Ein Jahr vor seinem Tod (er starb 363 mit 31 oder 32 Jahren) ließ Julian in Delphi fragen, ob das Orakel in dieser mehr und mehr christlichen Welt noch Zukunft habe.
Pythia antwortete darauf:
„Künde dem Kaiser, das schöngefügte Haus ist gefallen. Phoibos Apollon besitzt keine Zuflucht mehr, der heilige Lorbeer verwelkt, seine Quellen schweigen für immer, verstummt ist das Murmeln des Wassers.“
Immerhin hier war ihre Botschaft dieses Mal eindeutig – wenn auch erneut unausweichlich.
„Weiter eiltest du stürmisch hinauf die Hänge der Berge,
und gelangtest nach Krisa am Fuß des beschneiten Parnassos,
wo nach Westen sein Hang sich wendet, aber darüber
hängt ein Fels, und es zieht darunter die Tiefe des Waldtals
rauh dahin; dort plante der Herrscher Phoibos Apollon
seinen lieblichen Tempel zu bauen und sagte die Worte:
‚Hier gedenke ich mir führwahr den lieblichen Tempel
als ein Orakel den Menschen zu gründen, dass sie dann immer
mir vollendete Opfer an diese Stätte geleiten.
Alle, de in der Peloponnes, der üppigen, hausen,
die Europa bewohnen und ringsumflossene Inseln,
holen sich hier Orakel, und den untrüglichen Ratschluss
werde ich allen hier in dem üppigen Tempel verkünden‘.“
Der Homerische Hymnus an den Pythischen Apoll wird hier in der Übersetzung von Thassilo von Scheffer zitiert.
Praktische Informationen:
Öffnungszeiten und Preise:
täglich: 8.00- 15.00 Uhr (letzter Einlass um 14.30 Uhr)
12 € Vollpreis, 6 € reduziert
Freier Eintritt: 6. März, 18. April, 18. Mai, 5. Juni, 28. Okt., letztes Septemberwochenende, 1. Sonntag im Monat von November bis MärzHoteltipp:
Auch Delphi ist übervoll mit Hotels jeder Kategorie. Wir wohnten einfach, aber sauber und mit 15€ pro Person im Dreibettzimmer mit Frühstück extrem günstig in der Pension Sunview.* (Affiliatelink)
Über das „Magische Delphi“ schreibt auch Andrea auf Indigoblau.
Reiseführer-Empfehlung*:
Wir hatten zwei Reiseführer auf unserer Peloponnesreise dabei und der vom Michael Müller Verlag *(Affiliatelink)hat sich eindeutig als der bessere bewiesen. Schlicht deshalb, weil er 1. auch angrenzende Sehenswürdigkeiten abdeckte – also in unserem Fall Delphi -, 2. auch Tipps für einen Stoppover in Athen bereithielt und 3. die Hotel- und Restauranttipps wirklich gut waren.
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Achja, es gibt so Orte, deren uralte Heiligkeit empfindsame Menschen deutlich spüren.
Toller Bericht! Klasse, die Zitate!
LG
Ulrike
Ja, genau das ist es! Gut in Worte gefasst, Ulrike!
Es hat mich sehr gewundert, dass an dieser Stelle keine Kathedrale oder Wallfahrtskirche, nicht einmal ein Kloster entstanden ist.
Normalerweise werden Orte mit solch spürbarer uralter Heiligkeit weiterhin verehrt, auch wenn die Religion sich ändert. Das ist hier in Delphi ja bereits einmal geschehen und es wunderte mich, dass es keine Tradition in die christliche Zeit hinein gab.
Ja, jetzt, wo du das sagst, wirklich merkwürdig. Für mich ist der Mount Nebo ein solcher heiliger Ort: https://sacredsites.com/middle_east/jordan/jebel_musa.html
oh, klasse. Da werd ich dieses Jahr sein. Ich bin sehr gespannt!
Wie wunderbar dein Bericht ist, du hast den Zauber des Ortes in den Fotos hervorragend eingefangen. Ich bin in Gedanken wieder hingereist, danke dir dafür. Ganz liebe Grüße und danke fürs Verlinken
Wunderbarer Bericht, habe ich staunend und ehrfürchtig gelesen 🙂
staunend und ehrfürchtig – dann habe ich dich ein bisschen mitgenommen nach Delphi! Denn genauso stand ich dort!
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