Liegt Reiselust in der Familie? – Ein Nachruf

20150123_132913.2„Sagen Sie mal, sind Ihre Eltern auch so reise- und abenteuerlustig?“

Das fragte mich eine Mitreisende in Usbekistan. Als einzige Teilnehmerin unter 40 fiel ich in der Gruppe wohl etwas auf und deshalb erkundigte man sich danach, ob ich die Reiselust von meinen Eltern hatte. Tatsächlich musste ich fast lachen bei der Vorstellung, meine Mutter würde jemals ein Flugzeug besteigen und dann noch nach Zentralasien fliegen!

„Naja, nein, eigentlich nicht.“, antwortete ich. „Aber meine Großeltern.“

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meine Großeltern (m., r.) mit meinem Urgroßvater (l.)

Wahrscheinlich tat (und tue) ich meinen Eltern damit ein bisschen Unrecht. Sie sind eigentlich immer gerne weggefahren. Besonders abenteuerlustig waren sie dabei allerdings wirklich nicht. Und ihre Art Urlaub zu machen befriedigte mein kindliches, abenteuerlustiges Herz einfach nicht. Dagegen fabulierte ich schon früher bei Wanderungen mit meiner Oma darüber, dass wir einmal gemeinsam „von Stadt zu Stadt“ wandern oder einfach einem Bach oder Fluss nachgehen wollten, um zu sehen, wohin er führte. Diese kleinen Abenteuer entsprachen eher meinen Vorstellungen als die Familienausflüge, die wir mit den Eltern unternommen hatten. Und wenn ich mich frage, woher ich meine Reiselust wohl habe, dann kann die Antwort nur lauten: Von meinen Großeltern.

meine Großmutter leitet eine Aufführung in der Schule

meine Großmutter leitet eine Aufführung in der Schule

Meine Großeltern (mütterlicherseits) waren überraschend moderne Menschen. Geboren 1926 und 1928 lernten sie sich in den 1940er Jahren kennen. Sie waren viele Jahre verlobt, nicht weil sie nicht eher hätten heiraten dürfen, sondern weil meine Großmutter sich geweigert hat. Sie war Lehrerin, hatte in Bayreuth studiert und ging voll und ganz in ihrem Beruf auf. Diesen hätte sie allerdings als verheiratete Frau aufgeben müssen, da Lehrerinnen ledig bleiben mussten. Dieses Gesetz wurde erst im Jahr 1952 aufgehoben – und im selben Jahr heirateten meine Großeltern. Meine Großmutter arbeitete weiter, auch später als sie ein Kind hatte. Sie arbeitete bis Ende der 1980er Jahre Vollzeit und ihr Beruf war ihr immens wichtig. Er war ihre Leidenschaft und „ihre Kinder“ in der Schule lagen ihr wohl ähnlich am Herzen wie ihre eigene Tochter.

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meine Großmutter, wohl 1950er Jahre

Man kann (und ich finde ja: man muss) meine Großmutter für ihre Selbständigkeit, für ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstbewusstsein bewundern, Eigenschaften, die sie in einer Zeit an den Tag gelegt hat, in der es für Frauen selbstverständlich war, sich nach der Hochzeit ausschließlich dem Haushalt zu widmen. Aber für so eine moderne, gleichberechtigte Ehe brauchte sie auch den entsprechenden Mann und den hatte sie in meinem Großvater gefunden. Bis in die 1970er Jahre hinein hätte eine Frau ohne Erlaubnis des Mannes ja nicht einmal arbeiten können. Stattdessen hatte mein Großvater kein für mich je erkennbares Problem damit, dass seine Frau nicht nur die höhere Bildung genossen hatte, sondern wahrscheinlich auch mehr Geld nach Hause brachte – und er selbst in hohen Jahren noch ganz selbstverständlich den Staubsauger zur Hand nahm und mitputzte.

mein Opa mit dem typischen Grinsen im Gesicht

mein Opa mit dem typischen Grinsen im Gesicht

Er stand auch in keinster Weise unter den Pantoffeln meiner Großmutter und wäre etwa frustriert oder deprimiert gewesen, weil er nicht „der Herr im Haus“ war. Mein Großvater war weit davon entfernt, frustriert oder deprimiert zu sein. Sein ganzes Leben lang saß ihm der Schalk im Nacken und er war bis zum Schluss eine Art Till Eulenspiegel und trieb mit jedem seine nicht immer ganz unzweideutigen Scherze.

Meine Großeltern haben einfach, lange bevor man sich Gedanken machte über das Teilen des Haushaltes, die Work-Life-Balance und das unter den Hut bringen von Kind und Karriere, eine ganz gleichberechtigte, glückliche Ehe geführt und waren dabei bis zum Ende in einander verliebt.

Ich erinnere mich an einen ganz speziellen Heiligabend, es muss 2002 gewesen sein. Zu Heiligabend 1952 hatten meine Großeltern mit den Eltern meiner Großmutter ein Haus bezogen, das sie vorher zum großen Teil selbst mitgebaut hatten. Viel Geld hatten sie damals nicht, der Hausbau war trotz der eigenen Mitarbeit teuer gewesen. Und so schenkte man sich symbolisch jeweils gegenseitig ein Paar Socken. 2002 nun, 50 Jahre nach dem Bezug des Hauses, schenkten meine Großeltern einander – ohne jegliche Absprache – jeweils ein Paar Socken. Damals habe ich nicht ganz verstanden, warum sie lachten und weinten gleichzeitig, als sie ihre Geschenke auspackten. Heute finde ich die Geschichte unglaublich rührend.

20150123_133931.2Sie haben das geschafft, wovon wahrscheinlich alle träumen, die eine Ehe schließen, und was doch nur so wenige wirklich schaffen: Zusammen zu bleiben, sich wirklich ein Leben zu teilen. Wenn ich all die gemeinsamen Interessen meiner Großeltern aufzählen müsste, denen sie über die Jahre nachgegangen sind, könnte ich Seiten füllen: Sie sangen gemeinsam in Chören, sie gingen viel ins Theater, sie schmissen Faschingspartys bei sich zu Hause, die legendär gewesen sein mussten, sie waren aktiv im Kanuverein, arbeiteten später ehrenamtlich in Seniorengruppen, gingen wandern – und sie reisten. Sie reisten unglaublich viel und so oft sich eine Gelegenheit bot. Seit den frühesten Jahren ihrer Beziehung finden sich Fotoalben gefüllt mit Reisebildern – meist aus den Bergen, denn in jüngeren Jahren waren beide passionierte Bergsteiger, Skifahrer und Wanderer. Später waren sie mehrmals in den USA oder unternahmen eine Rundfahrt und Kreuzfahrt durch Skandinavien. Ihre letzte gemeinsame Reise führte sie 2007, ein Jahr vor dem Tod meines Großvaters, in die Schweiz und nach Norditalien.

Meine Großmutter war für mich, auch als Frau, immer ein großes Vorbild. Sowie meine Großeltern und das, was sie gemeinsam mir vorgelebt haben, für mich vorbildlich war. Sie waren tolerant und offen, sie hegten keine Vorurteile gegenüber anderen Kulturen oder Religionen. Sie lebten ein aktives, fröhliches Leben und gestanden anderen ihre Eigenheiten und Torheiten zu. Sie waren natürlich keine Heiligen, aber sie waren Menschen, die glücklich und zufrieden lebten und dabei keine Gelegenheit ausließen, das Leben wirklich zu genießen und Spaß zu haben.

Lass niemals eine Gelegenheit aus, zu reisen oder ins Theater zu gehen

Als meine Großmutter nicht mehr selbst reisen konnte (obwohl sie kleinere Ausflüge bis letztes Jahr unternahm), lauschte sie immer neugierig meinen Reiseerzählungen („Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, pflegte mein Großvater in solchen Momenten immer zu sagen) und auch meinen Berichten aus dem Theater, v.a. als ich in Wien lebte. Einmal, als wir damals miteinander telefonierten, sagte sie mir: „Lass niemals eine Gelegenheit aus, zu reisen oder ins Theater zu gehen“. Sie selbst hat das sicherlich niemals getan – und ich denke oft an diesen Ratschlag.

meine Großeltern (l.,m.) mit meinen Urgroßeltern (o., r.)

meine Großeltern (l.,m.) mit meinen Urgroßeltern (o., r.)

Wenn ich die Fotoalben durchblättere, entdecke ich auch immer wieder meine Urgroßeltern, also die Eltern meiner Großmutter. Wieviel ihrer Reiselust hatte meine Großmutter wohl wieder von ihren Eltern? Ist die Reise- und Wanderlust also möglicherweise vererbbar und bricht einfach nicht bei jedem Mitglied der Familie gleichermaßen aus? Zumindest haben meine Urgroßeltern ihre Tochter zu einer lebensfrohen, vielseitig interessierten, aufgeschlossenen und selbstbewussten Persönlichkeit erzogen, die mich in vieler Hinsicht geprägt hat.

meine Großmutter Friede († 21.01.2015)

meine Großmutter († 21.01.2015)

13 Gedanken zu “Liegt Reiselust in der Familie? – Ein Nachruf

  1. Sehr schöner Artikel. Deine Großmutter muss eine tolle Frau gewesen sein! Und es scheint, sie hatte ein erfülltes Leben, das hilft beim Abschied nehmen. Auch ich habe meine beiden Großmütter als emanzipiert erlebt. Teilweise emanzipierter als Frauen und Männer heute. Sie waren mir auch Vorbilder. Ich werde den Post in der Gruppe Netzwerk für Frauen in Facebook teilen. LG Sabine

    • Vielen lieben Dank für deine Worte, Sabine.
      Ja, es ist für mich wirklich ein Trost, zu wissen, dass sie ein erfülltes Leben hatte und (fast) bis zum Schluss selbständig war und sich für Vieles interessiert hat.
      Vielen Dank auch fürs Teilen!

  2. Danke für deinen Besuch bei mir! Ich habe deinen Bericht über deine Großeltern sehr genossen und einige Parallelen zu meinen gefunden! Da haben wir beide heuer zwei großartige Menschen verloren, aber solange wir an sie denken und ihre Geschichten weiter erzählen, solange werden sie um uns sein und unvergessen!
    LG Petra

    • Danke Petra. Ja, du hast Recht. Wir haben beide ähnliches erlebt dieses Jahr und wir hatten wohl beide das Gefühl, dass es nicht sonderlich gut begann. Und wir beide haben ähnliche liebe Erinnerungen, die wir mit uns herumtragen und hoffentlich noch lange pflegen werden.

    • danke. Ich hab mir einfach von der Seele geschrieben, was in mir vorging, als ich Omas Fotos durchschaute. Deshalb hab ich z.B. auch nicht nachgesehen, wann genau sich meine Großeltern kennen gelernt haben, weil keine Recherche in dem Sinne voranging.

  3. Großartige Geschichte! Deine Großeltern sind ungefähr so alt wie meine Eltern. Herrlich dies Weihnachten mit den Socken! Meine Eltern sind auch gerne gereist und haben viel von der Welt gesehen. Mich und meine Art zu Reisen haben sie allerdings nicht immer verstanden und trotzdem haben sie mich unterstützt. Es ist auch schön zu lesen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die ihr Leben zusammen verbringen. Meine Mutter ist leider schon 1999 verstorben. Aber Deinen Artikel nehme ich zum Anlass, nochmal mit meinem Vater (89) zu sprechen und ihn nach seinen frühen Reisen zu fragen.
    Danke, dass Du diese Geschichte mit uns geteilt hast!
    LG
    Ulrike

    • Vielen Dank, Sabine.
      Ja, vielleicht hätten sie das. Wie so oft, denkt man sich hinterher, dass man früher oft nicht gut genug zugehört und vieles einfach sinnloserweise nie gesagt hat…
      Aber wahrscheinlich wissen sie es auch so, ohne, dass sie es lesen müssten.

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