#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen

Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel, Teil 8
Die bisher erschienen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1: 716km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
#7 Kühe, Käse, Calvados – Mit dem Fahrrad durchs Pays d’Auge


An meinem 31. Geburtstag erwachte ich frierend im Zelt. Es war kalt. Furchtbar kalt. Meine Nasenspitze fühlte sich an, als wäre sie angefroren. Vielleicht lag es daran, dass es in der Nacht zuvor – anders als in Jumièges – klar gewesen war?
Jedenfalls war es kalt gewesen. Und jede von uns war in der Nacht immer wieder aufgewacht und hatte sich noch eine Schicht angezogen.
Trotzdem erwachte ich an meinem 31. Geburtstag frierend in einem Zelt mit zwei eingeknickten Stangen im Schatten der Burg von Falaise, auf der – „der Legende nach“ – Wilhelm der Eroberer geboren worden war.

 

Zuerst musste einmal das Frühstück beschafft werden: Ich zog also los, um beim Bäcker den obligatorischen Erdbeerkuchen zu kaufen.
Jawohl, Erdbeerkuchen! Zu meinem 4. (oder 5.?) Geburtstag hatte meine Mutter mir Erdbeerkuchen in den Kindergarten mitgegeben. Seither waren mein Geburtstag und das Essen von Erdbeerkuchen untrennbar miteinander verknüpft und diese Tradition wollte ich auch in Frankreich nicht brechen.

Als ich vom Bäcker zurückkam, hatte Sabine gerade eben den philosophischen Schotten bestohlen. Aber das wussten in diesem Moment weder er noch wir. Erst beim Frühstück berichtete Sabine, die in meiner Abwesenheit unsere zum Trocknen im Waschraum aufgehängten Kleidungsstücke eingesammelt hatte, mein T-Shirt „mit dem Rot am Kragen“ sei noch nicht ganz trocken gewesen. Sie hätte es in die Sonne gehängt. Ich hatte bloß gar kein solches T-Shirt und wie sich herausstellte, stammte es von unserem schottischen Radlerkollegen, mit dem wir gestern beim Wäschewaschen ins Gespräch gekommen waren und der etwas verdutzt wieder aus der Waschküche kam, als er feststellte, dass seine Kleidungsstücke fehlten.

Wir hatten keine lange Strecke vor uns. Mit ca. 30km war dies tatsächlich die kürzeste Etappe der Tour. Aber hey, immerhin hatte ich Geburtstag.

Hoch und runter ging es  auch heute, doch die Hügel waren eindeutig flacher geworden, seit wir das Pays d’Auge hinter uns gelassen hatten. Und erneut bewahrheitete sich der Satz des Schotten: Without hills there is no view!
Kurz bevor der Weg sehr steil nach Clécy abfiel tat sich erneut ein überwältigender Blick ins Land auf: Grüne Wiesen, Schäfchenwolken, Wanderer waren unterwegs und der Himmel voller Paraglieder. Es war als sei man in einen Imagefilm der Tourismusregion „Suisse normande“ geraten!

Ausblick kurz vor der Abfahrt nach Clécy

Clécy

Wir quartierten uns am diesseitigen Ufer der Orne ein, in einem kleinen Ort namens Le Vey, ein paar Gehminuten von Clécy entfert. Dort nahmen wir uns ein Zimmer in einem Chambre d’hôtes auf einem Cidre-Hof – ein wunderschönes Zimmer in einem wunderschönen Haus. Das einzige, was den Blick trübte, war ein traurig dreinschauender Kettenhund im Hof. Es war seltsam, einen Hund an der Kette zu sehen, denn sonst rannten die Vierbeiner recht vergnügt frei herum. Es geschah nicht selten, dass sie plötzlich auf eine offene Hofeinfahrt zuschossen, an der wir gerade vorbeiradelten. Das bescherte uns jedes Mal einen halben Herzinfarkt, aber die Hunde wussten zum Glück sehr genau, wo ihr Revier endete.
Nur zweimal – später im Viretal – ist es uns passiert, dass uns kleine Wadenbeißer hinterher rannten.

das Chambres d’hôtes in Le Vey

Die Feier meines Geburtstages bestand aus einem Picknick auf der Wiese hinter dem Haus mit anschließendem Dösen im Sonnenschein unter Beobachtung einer neugierigen Katze. Dann erst bachen wir nach Clécy auf.

Die Hauptattraktion in Clécy ist der Fluss Orne. Dort spielt sich alles ab und es war wirklich viel los: Familienausflügler, Spaziergänger, Kanuten… es war immerhin Samstag Nachmittag und das Wetter war einladend.
Im Ort selbst blieb es still, aber er gefiel uns überraschend gut. Wir fanden einen hübschen kleinen Platz mit Springbrunnen, wo wir es uns für eine ganze Weile mit einer großen Flasche Orangina gemütlich machten und einfach nur das ruhige Treiben der wenigen anderen Menschen beobachteten.

in Clécy, abseits des Rummels, der am Fluss herrschte

Wo geht’s denn hier zum Radweg?

Für den folgenden Tag hatte Google Nieselregen angekündigt (ja, ich bin ja eigentlich ein offline-Mensch im Urlaub, aber die Google-Wetter-App ist wirklich praktisch 😉 ) – und der Nieselregen kam auch. Und er blieb. Den ganzen Tag. Nur abends änderte sich das Wetter und der Nieselregen ging in richtigen Regen über. Zum Glück waren wir da aber bereits am Ziel.

Fest in regenabweisende Funktionskleidung verpackt radelten wir los. Hier winkte uns keiner nach und niemand rief „God bless you“ wie in Lisieux. Zugegeben: Die anderen Gäste sowie auch die Wirtin des chambre d’hôtes waren eher reserviert. Beim Frühstück saßen wir zwar mit zwei Paaren am Tisch, die die anderen beiden Zimmer bewohnt hatten, aber jeder schwieg beharrlich vor sich hin und wenn geredet wurde, dann nur sehr leise mit dem eigenen (Reise-)Partner. Man kommt eben nicht immer mit anderen ins Gespräch. Manchmal sitzt man nur befangen nebeneinander und schweigt.

Ab der nächsten Ortschaft – Thury-Harcourt (welch Name! ich finde, er klingt wie ein altes Adelsgeschlecht) sollte es einen Radweg geben, der uns direkt bis nach Caen bringen sollte.
Wie sich herausstellte war der aber gar nicht so einfach zu finden. In Thury-Harcourt sollte er eigentlich starte und durch einen Tunnel hindurchführen, aber das war wohl noch Zukunftsmusik, denn der Tunnel befand sich noch im Ausbau.
Wir mussten also auf andere Weise auf die andere Seite dieses Berges kommen – wenn es nicht hindurch ging, musste es eben irgendwie darüber hinweg gehen. Dabei hatten wir von Bergen wahrlich erst mal genug – aber hier im Orne-Tal fühten sämtliche Straßen über die Höhen; im Tal selbst sollte es eben nur den Radweg geben.

Also machten wir uns auf die Suche nach dem Radweg, der natürlich nicht ausgeschildert war. Wieso sollte man Radfahrern, die vor einem gesperrten Tunnel stehen auch einen Hinweis geben, wie sie zum Radweg gelangen konnten?
Den Radweg zu finden hatte dann auch ein bisschen von Geocachen: zurück auf die Hauptstraße, auf eine kleine Nebenstraße abzweigen, zwischen zwei gespenstisch aufragenden Felswänden hindurch, zur nächsten bergaufführenden Nebenstraße… ja, bergauf. Obwohl wir doch eigentlich hinunter wollten, ins Flusstal.
Wenn wir mein GPS-Gerät befragten, dann hätte es hier eigentlich abgehen müssen und wir hätten direkt zum Radweg kommen sollen. Aber es gab einfach keine Abzweigung hier. Ungefähr fünf Mal fuhren wir hin und her, bergauf und wieder bergab und wieder bergauf, um zu sehen, ob die Abzweigung vielleicht so klein und versteckt war. Aber es gab keine Abzweigung.
Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, dass der eingezeichnete Weg UNTER uns verlief. Nämlich im Tunnel, auf dem wir sozusagen gerade standen. Na prima.
wir konsultierten wieder die Karten, scrollten und blätterten und entschieden uns schließlich für einen Feldweg, der möglicherweise zum Radweg führen würde. Dazu mussten wir doch noch einmal bergauf fahren. Und siehe da! Auf einmal – aus heiterem Himmel – stand mitten in der Landschaft ein kleiner gelber Pfeil „voie verte“. Danke auch! Großartige Umleitung! Welch lückenlose Beschilderung

frisch geteert und leicht abschüssig – aber weit ab vom Schuss: Der Orne-Radweg

Wir holperten einen halsbrecherisch geschotterten Weg hinab und Sabine schimpfte vor sich hin: „Ich erwarte da unten jetzt einen sauber asphaltierten, ebenen Weg bis nach Caen. Sonst kriegt die Basse Normandie einen Beschwerdebrief!“
Wider alle Erwartungen wurde ihr Wunsch erfüllt und wir lachten uns Schlapp beim Anblick dieses gut versteckten Radwegkleinords: Ein frisch angelegter, sauber asphaltierter, sogar weitgehend abschüssiger Radweg mit Pausenbänken und Beschilderung (nicht, dass es nennenswerte Abzweigungen gegeben hätte) – und das bis ins Zentrum von Caen! Die Basse Normandie bekam also keinen Beschwerdebrief von Sabine.
Der Nachteil war, dass man sich die ganze Zeit direkt an der Orne entlang bewegte, nur auf dem Radweg, keine Orte passierend. Vom Radweg abzuzweigen hätte bedeutet, irgendwelchen Waldwegen steil bergauf zu folgen. Es ist ja schön, dass die Franzosen so tolle Radwege bauen, aber irgendwie hapert es noch an der Radreise-Infrastruktur.

Unterwegs trafen wir ein niederländisches Ehepaar, das eine Frankreichdurchquerung hinter sich hatte; sie hatten an der spanischen Grenze gestartet und wollten bis an die nördlichste Grenze fahren. Das hier sei eindeutig der beste Radweg bisher, sagte sie. Aber ein bisschen schwierig zu finden sei er schon …

Caen im Regen

Um 15 Uhr erreichten wir bereits Caen, wo wir recht zentral im Ibishotel eincheckten und so noch genügend Zeit für einen Stadtbummel hatten.
Caen konnte uns nicht wirklich überzeugen, was sicher daran lag, dass wir es an unserem einzigen wirklichen Regentag erreichten und besichtigten.

Wilhelm der Eroberer ist auch in Caen allgegenwärtig

Aber ganz sicher lag es auch daran, dass Caen beim Einmarsch der Alliierten fast vollständig zerstört worden war.
Die drei Eckpunkte der Stadt standen noch: In der Mitte die wuchtige Burg, im Westen die Abbaye aux Hommes, wo (nicht nur der Legende nach, sondern wirklich!) Wilhelm der Eroberer begraben liegt und im Osten die Abbaye aux Dames, wo Wilhelms Gattin Mathilde ihre letzte Ruhestätte gefunden hat.  Wilhelm hatte die Männerabtei gegründet, Mathilde die Frauenabtei. Die beiden waren sehr eng miteinander verwandt und hatten deshalb (aber wohl auch aus politischen Gründen) den Dispens des Papstes nicht erhalten. Nach erfolgreicher Vermittlung gelobten sie, Klöster zu stiften – als Sühne für ihre Ehe gegen den Willen des Papstes.

die Abbaye aux Hommes. Das Bild wurde am nächsten Tag aufgenommen, als wir auf der Weiterfahrt noch einmal vorbeikamen

das Grab Wilhelm des Eroberers. Mathildes Grab in der Abbaye aux Dames war leider mit einer spiegelnden Glasplatte versehen und ergab kein besonders schönes Bild

die Abbaye aux Dames

Anonsten ist vom alten Caen ein einziger Straßenzug erhalten, der erkennen lässt, dass die Stadt einmal ganz schön gewesen sein muss.

der letzte Rest der mittelalterlichen Idylle

Sabine hat Caen wenig später ein weiteres Mal bei schönem Wetter besucht und mir berichtet, dass es bei Sonnenschein eigentlich ganz schön sei.
Uns hat es damals – wie gesagt – nicht besonders beeindruckt und es blieb mir eher als Durchgangsstation auf dem Weg ins schöne Bayeux in Erinnerung.

Es hat jetzt wirklich eine ganze Weile gedauert, bis ich diesen Artikel online gebracht habe. Irgendwie war ein bisschen die Luft draußen und ich brauchte eine Pause!

Noch Reiseliteratur gesucht?*

normandie_219Wie so oft hat uns auch auf dieser Reise ein Reiseführer vom Michael Müller Verlag *begleitet.

Ralf Nestmeyer: Normandie
Michael Müller Verlag, 456 Seiten + herausnehmbare Karte (1:500.000), farbig
ISBN 978-3-95654-218-3
3. Auflage 2016


Alle bisher erschienenen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1: 716km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
#7 Kühe, Käse, Calvados – Mit dem Fahrrad durchs Pays d’Auge
#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen
#9 „Urlaub vom Urlaub“ im wunderschönen Bayeux
#10 D-Day-Feiern an den Landungsstränden. „Where have all the flowers gone?“
#11 Lob der Faulheit
#13 Das Wunder des Abendlandes: Der Mont St. Michel

0 Gedanken zu “#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen

  1. macht ja nix, ich hab auch noch diverse artikel aus dem sommer in den entwürfen, die brauchen eben öfter mal zeit um geschrieben zu werden! wie dir mit caen ging es mir mit le havre. hab ich glaub ich eh schon mal gesagt. da hab ich kaum was schönes dran finden können, mit ausnahme der kirche, die als so ziemlich einziges bauwerk der stadt dem 2. weltkrieg standgehalten hat.

  2. Ach, es freut mich, dass du wieder Fahrt aufgenommen hast!
    Manchmal ist so eine Pause einfach genau das Richtige – und Geschichten laufen ja nicht weg …
    Wenn du magst, würd ich mich natürlich SEHR über einen Gastbeitrag zu meiner Fahrradweltreise freuen! Ein besonderes Erlebnis, irgendwas Allgemeines über eure Tour, wasauchimmer – lass dir gern was einfallen und mail mir einfach 😉
    Liebe Grüße
    Christiane

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