Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel, Teil 4
Die bisher erschienen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1 Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel. 716 km durch die Normandie
#2 Der Weg ist das Ziel – oder so
#3 Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
Städte sind mit dem Fahrrad häufig eine echte Herausforderung. Und damit meine ich noch nicht einmal in erster Linie das Darin-Herum-Fahren, sondern viel mehr das Hinein- bzw. Herausfinden. Stadtein- und ausfahrten sind für Autos angelegt und entsprechend ausgeschildert. Will man mit dem Rad nicht über die Haupt- und Bundesstraßen sondern über kleine Landstraßen weiterfahren, hangelt man sich nicht selten von Straßenkreuzung zu Straßenkreuzung und sucht jeweils auf der Karte die richtige Route. Nicht so in Rouen.
Die Radwege von Rouen führen zuverlässig – wenn auch mit lästigem Ampel Stop ’n‘ Go – aus der Stadt heraus und in einer weiten Seine-Schleife am Industriehafen entlang. Die andere Seite des idyllischen Rouen mit seinen Fachwerkhäusern.
Unsere Route sollte heute, an diesem ersten Rad-Tag, ins etwa 55km entfernte Jumièges führen. Auch am folgenden Tag solllte es noch durch das Seine-Tal gehen, das wir dann aber verlassen würden, um nach Pont-Audemer zu gelangen. Von dort aus sollte es es dann am dritten Tag über Honfleur nach Trouville-Deauville weiter gehen.
Die Möglichkeit, der Seine bis Le Havre zu folgen, verwarfen wir; hauptsächlich aus praktischen Erwägungen, aber auch weil wir – nach allem, was man hört und liest – mit Le Havre wohl nicht viel verpassen würden.
Durch das idyllische Seine-Tal
Mehrmals überquerten wir die Seine, was einfach ist, da es zahlreiche Fähren gibt, die nicht nur häufig fahren, sondern obendrein auch noch gratis sind. Praktische Sache.
Unser Weg führt entlang einer ausgeschilderten Radroute und besonders an diesem ersten Tag überrascht uns das Seine-Tal mit einer herrlich malerischen Landschaft am Südufer. Saftige Wiesen, grüne Weiden, Apfelplantagen, viele hübsche Häuser. Teilweise kleine, entzückende, teilweise – v.a. hinter Rouen – aber auch große, villenähnliche, die an englische Gutshäuser erinnern.
Die „Route der Strohhütten“ hinter Jumièges, die wir am nächsten Tag fahren würden, ist landschaftlich nicht ganz so malerisch, wartet aber mit herrlich pittoresken Fachwerkhäusern auf, auf deren Strohdächern Schwertlilien wachsen (draufklicken, um die Bilder größer zu sehen!).
Schon im Seine-Tal bemerken wir, dass es bei weitem nicht immer so flach ist, nur weil auf der Karte keine größeren Höhen eingezeichnet sind. Ein erster, noch harmloser Vorgeschmack auf das Auf und Ab des Pay d’Auge. Aber auch die idyllischen normannischen Landstraßen dürfen wir heute schon genießen.
Nach 55km erreichen wir erschöpft und mit schmerzendem Hintern unser Tagesziel. Allem Training zum Trotz muss man sich an das Radfahren erst wieder gewöhnen. In Jumièges quartieren wir uns auf dem Zeltplatz ein und noch vor der ersten Mahlzeit vom Gaskocher gehen wir auf Besichtigungstour. Ziel: Die Klosterruine von Jumièges.
Die Abtei von Jumièges
Bereits im Jahr 654 vom späteren Abt Philibert gegründet und von Königin Bathilde mit weitläufigen Ländereien und Fischereirechten in der Seine ausgestattet, hatte diese Abtei eine wechselvolle Geschichte.
Sie litt unter den Einfällen der Wikinger, der „Nordmänner“, die mit ihren Schiffen die Seine hinauf Richtung Paris zogen, und blühte ab dem späten 10. Jahrhundert auf.
In den kommenden Jahrhunderten vermehrte sie durch fromme Stiftungen ihren Besitz erheblich; bis ins 14. Jahrhundert wurden quasi durchgängig umfangreiche Baumaßnahmen durchgeführt und bei der Weihe der Kirche Notre-Dame 1067 waren nicht nur zahlreiche Bischöfe, sondern auch Wilhelm der Eroberer anwesend, der erst kurz zuvor siegreich aus England zurückgekehrt war. Aus dieser Zeit stammen auch prachtvolle Handschriften, wie die Bibel von Jumièges und die „Geschichte der Herzöge der Normandie“.
Ab dem 15. Jahrhundert setzte der Verfall ein und als die Abtei während der Revolution 1790 aufgelöst wurde, lebten dort nur noch 18 Mönche.
1795 wurde die Anlage als Staatsbesitz verkauft und damit begann die systematische Zerstörung. Bereits um 1802 wurde das Querhaus der Kirche gesprengt. Die Gebäude dienten als Steinbruch. So kaufte etwa der englische Botschafter in Paris behauene Steine für seinen Landsitz.
Erst mit dem Erwerb der Abtei durch die Familie Lepel-Cointet fand die Zerstörung ein Ende. 1946 ging die Anlage wieder in Staatsbesitz über und wurde in zwei Etappen 1918 und 1947 unter Denkmalschutz gestellt.
Die Anlage ist gewaltig. Allein die Ruine lässt erahnen, wie großartig diese Abtei einst gewesen sein muss.
Die „Romantik“, die der Reiseführer vorhersagte, empfand ich allerdings nicht. Eher bedrückte mich die Vorstellung, dass Menschen aus Fanatismus oder Prinzipienverbissenheit, aus Hass, Geldgeilheit oder Ignoranz in der Lage sind, so etwas Kunstvolles und Schönes zu zerstören. Eine Sache, die wir ja auch heute noch erleben. Vielleicht weniger mitten unter uns, aber in anderen Teilen der Welt, wo Fanatiker nicht nur Menschen niedermetzeln sondern auch aus blindem Hass Altes, Wertvolles und Schönes zerstören. Blind für die Wunder, die sie gerade vernichten.
Ich saß zwischen den Ruinen und meine Stimmung sank beim Anblick dieser ruinierten Großartigkeit unaufhörlich, bis ich wirklich nur noch Melancholie und Traurigkeit empfand. „Die romantischste Ruine Frankreichs“? Wirklich? Eher ein beredtes Zeugnis für die Verbohrtheit der Menschen, wenn ihr mich fragt.
Wer die Abtei von Jumieges auch gerne besichtigen möchte, findet hier mehr Informationen.
Noch Reiseliteratur gesucht?*
Wie so oft hat uns auch auf dieser Reise ein Reiseführer vom Michael Müller Verlag *(Affiliatelink) begleitet.
Ralf Nestmeyer: Normandie
Michael Müller Verlag, 456 Seiten + herausnehmbare Karte (1:500.000), farbig
ISBN 978-3-95654-218-3
3. Auflage 2016
Alle bisher erschienenen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1: 716km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
#7 Kühe, Käse, Calvados – Mit dem Fahrrad durchs Pays d’Auge
#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen
#9 „Urlaub vom Urlaub“ im wunderschönen Bayeux
#10 D-Day-Feiern an den Landungsstränden. „Where have all the flowers gone?“
#11 Lob der Faulheit
#13 Das Wunder des Abendlandes: Der Mont St. Michel
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meine meinung zu le havre kennst du ja 🙂 hört sich wieder nach einem wirklich schönen streckenabschnitt an!
haha, ja, ich hab auch kurz überlegt, ob ich deinen Beitrag da verlinken soll 🙂
War auch ein schöner Streckenabschnitt, aber nicht DER schönste überhaupt… ach, DEN Schönsten auf dieser Tour nennen zu müssen, wäre auch schwierig.