#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse

Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel, Teil 6
Die bisher erschienen Artikel über unsere Normandie-Reise:

#1 Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel. 716 km durch die Normandie
#2 Der Weg ist das Ziel – oder so
#3 Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4 Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5 Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen

Ich weiß nicht mehr, warum wir schon vor Anbruch der Reise beschlossen hatten, diesen Tag als Pausentag zu nutzen. Vielleicht glaubten wir einfach, aufgrund mangelnden Trainings eine Pause nötig zu haben?
Wirklich nötig hatten wir sie zwar nicht – aber sie kam uns durchaus gelegen. Und der faule Tag wurde in vollen Zügen genossen.

die Basilika in Lisieux

Es war schon ein Luxus, früh noch im Bett liegen zu bleiben und sich dann ein ausgiebiges Frühstück am Buffett zu gönnen. Es ging heute nicht darum, möglichst früh aufzubrechen – im Gegenteil: Von Trouville-Deauville aus fuhren alle zwei Stunden Züge nach Lisieux – den um 12.04 Uhr wollten wir erst nehmen.
Das hieß, wir hatten noch eine ganze Menge Zeit, die wir genüsslich in Trouville vertrödelten. Da das Wetter hervorragend war und sich kein Wölkchen am Himmel zeigte, spazierten wir barfuß durch den warmen Sand und das eiskalte Wasser.

Natürlich hätten wir auch an der Küste bleiben und dort weiterradeln können – das hätte uns wohl einiges an Kilometern gespart – aber wir hatten ja seit 10 Jahren die fixe Idee, ein Bild von uns mit dem Ortsschild von Camembert machen zu wollen. Und dafür mussten wir nach Süden und kamen zwangsläufig an Lisieux vorbei.
Als Frömmigkeitshistorikerin waren Wallfahrten sowieso mein Steckenpferd und so war mir das durchaus recht. Immerhin waren wir sowieso auf Pilgerfahrt und auch früher waren „Mehrfachwallfahrten“ durchaus Gang und Gäbe. Wir waren also in historisch verbriefter Gesellschaft.

In der Pilgerherberge von Lisieux

Die Fahrt nach Lisieux dauerte nicht lange und auch die Eremitage Sainte Thérèse war schnell gefunden. Diese Herberge war, wie es schon auf der Homepage deutlich stand, strikt Pilgern vorbehalten. So spazierte ich also hinein und legte stolz einen meiner zweisprachigen Pilgerbriefe vor, den ich mir so hart erkämpft hatte.
Die Dame an der Rezeption nahm ihn freundlich lächelnd entgegen und las ihn – einmal, zweimal. Dann rief sie eine Kollegin und reichte ihr den Brief, eine dritte gesellte sich dazu und sie lasen sich gegenseitig laut den Pilgerbrief vor. Sie besprachen sich kurz, dann wandte sich die erste Dame an mich und fragte mich auf englisch, was das denn sei – „dieses System“ sei ihnen fremd.

Dieses System? Ein Pilgerbrief? Am zweitgrößten Wallfahrtsort Frankreichs? In einem Haus, das strikt Pilgern vorbehalten ist? Wie sollen die sich denn sonst ausweisen? Und wollte mir diese Dame etwa ernsthaft sagen, ich wäre völlig umsosnt zwei Monate lang hinter diesem Wisch hergerannt?
Für Lisieux jedenfalls brauchten wir ihn nicht. Wir konnten auch so Quartier beziehen – für 33€ mit Halbpension.

der Innenhof in der Eremitage Ste Thérèse

Unser Zimmer

Die Eremitage war ein schönes Gebäude mit einem herrlichen Innenhof, in dem wir den halben Nachmittag verdösten. Die Zimmer waren klein und einfach, aber die Betten gemütlich.
Nach Bezug unseres Zimmerchens brachen wir auf zur Besichtigungstour Richtung Basilika.

Die kleine Heilige und die große Wallfahrt

 

Die Basilika Ste Thérèse ist riesig: 4500qm Fläche bedeckt die 1929 – 1954 erbaute Wallfahrtskirche. Die Kuppel ist über 80m hoch. Der ganze Bau ist im neo-romanisch-byzantinischen Stil gehalten, reich mit Mosaiken verziert und einer der größten Kirchenbauten der Neuzeit (zumindest habe ich das dort irgendwo so gelesen). Und das alles für die sogenannte „Kleine Heilige“

Ich hatte zuvor schon über Thérèse Martin gelesen, aber nie so ganz verstehen können, woher die massive Verehrung dieser Heiligen kam. Auf mich wirkte die 1897 als 24jährige an Tuberkulose verstorbene Karmeliterin immer, als sei sie psychisch unreif, sehr kindlich gewesen.
Vielleicht würde ich also hier endlich mehr über sie erfahren können.

Jedem Lisieux-Besucher kann ich nur den Besuch des Dioramas gleich neben der Basilika ans Herz legen. Bei freiem Eintritt wird hier in mehreren Stationen mit lebensgroßen Wachsfiguren das Leben der Heiligen Thérèse erzählt. Ja, das ist kitschig! Aber durch den Audio-Guide, der viele Infos und zahlreiche Zitate aus Thérèses Briefen und Schriften bereit hält, sehr aufschlussreich, wie ich fand.
Zu meinem bisherigen Eindruck der Heiligen gesellte sich nun handfestes Befremden darüber, dass man dieses arme Wesen so verehrt, als sei ihr trauriges Leben erhaben und nachahmenswert gewesen.

809px-Therese_LisieuxMit vier Jahren verlor Thérèse ihre Mutter, ein Verlust, den sie nie verarbeiten konnte, v.a. da sie mit neun Jahren auch noch die zweite Bezugsperson verlor: Ihre ältere Schwester, die ins Kloster eintrat.
Dies alles führte bei ihr zu psychischen Problemen („sie wurde krank“, wie es so schön hieß) und schon mit neun Jahren beschloss sie, die Trauer über diese Verluste zu verdrängen und Maria als einzige Mutter anzunehmen.
Das eine Neunjährige auf solche Ideen kommt, würde einen heute schon stutzig machen, verwundert aber nicht weiter, wenn man erfährt, dass ihre Eltern einen Ruf für ihre besonders strikte Religiosität hatten und alle vier (!) ihrer Schwestern ebenfalls Nonne wurden. Damals nannte man das „fromme Erziehung“, heute fiele einem dazu eher „Gehirnwäsche“ ein. Was die Kirche aber nicht davon abgehalten hat, auch die Eltern inzwischen selig zu sprechen.

Seit Thérèse 13 Jahre alt war, reiste sie zum Bischof von Lisieux und zum Papst(!), um eine Sondergenehmigung zu erwirken, so dass sie bereits mit 15 Jahren in den Karmeliterinnenorden eintreten konnte.
Sie erkrankte in jungen Jahren an Tuberkulose und starb schließlich daran mit nur 24 Jahren.
Irgendwann in dieser Zeit formulierte sie ihren berühmten „Kleinen Weg“ zur Heiligkeit: Heiligkeit solle eben nicht durch großartige Opfer oder Taten erlangt werden, sondern durch kleine, die man Gott in Liebe darbrachte.
Das klingt soweit noch ganz logisch, wenn man dann aber hört, dass sie noch auf dem Sterbebett bereute, was sie alles nicht getan hatte: Sie war eben keine Missionarin geworden, hatte eben keine großen Taten vollbracht – so klingt es für mich nach einem sterbenden Mädchen, das sich selbst tröstet, sie hätte zwar all das Große, das sie hatte vollbringen wollen, nicht vollbracht, sich aber vertrauensvoll in Gottes Arme begeben – und das sei doch auch gut.

Thérèse tat mir leid und es befremdete mich, wie ihr kurzes von Verlusten und Schmerzen geprägtes Leben so beweihräuchert wurde.
Haltet mich für altmodisch, aber ich bin ja der Ansicht, um heiliggesprochen zu werden, sollte man irgendetwas Besonderes gemacht haben – und nicht dezidiert NICHTS Besonderes getan haben. Für die Feststellung, eigentlich nichts tun zu müssen, wird man aber offenbar zur Kirchenlehrerin ernannt und schon 28 Jahre nach dem Tod heiliggesprochen.

Mosaik in der Basilika von Lisieux – Thérèse von Päpsten umgeben, die ihr verschiedene Titel antragen

Mir sind die tatkräftigen Heiligen ja lieber – etwa eine Jeanne d’Arc, die freilich soweit vom kirchlich abgesegneten passiven Frauenbild entfernt war, dass sie 500 Jahre auf ihre Heiligsprechung warten musste. Ganz zu schweigen von so streitbaren Damen wie Mary Ward – die übrigens wirklich als Missionarin tätig war und der die Anglikaner nachsagten, sie sei bei der katholischen Mission in England „schlimmer“ (also erfolgreicher) als zehn Jesuiten! – die bis heute darauf warten muss.

Nun hoffe ich, etwaigen Thérèse-Verehrern unter meinen Lesern nicht zu nahe getreten zu sein. Sollte sich so jemand unter den Lesern befinden, würde ich mich freuen zu hören, was für euch an Thérèse so faszinierend und heiligmäßig ist. Ich bin neugierig und ehrlich interessiert. Ich verstehe ja durchaus, dass der Kleine Weg Mut macht, weil man eben nichts Großes vollbringen muss. Mut für den „gemeinen Gläubigen“, sozusagen. Das allein überzeugt mich allerdings gar nicht als Argument für eine Heiligsprechung.

Ich war erleichtert zu sehen, dass Sabine das Ganze ähnlich befremdlich vorkam, aber wir behielten diese unsere Einschätzung in der Pilgerherberge wohlweislich für uns.

Ein Ave-Maria nach dem Abendessen

Trotz des Befremdens, das mich beschlichen hatte, gehört Lisieux zu meinen liebsten Erinnerungen der Reise. Mein auch wissenschaftliches Interesse an Wallfahrten und meine fast kindliche Freude an Devotionalien-Shops trugen dazu sicher genauso bei wie der faule Tag. Aber besonders tat dies die herzliche Atmosphäre in der Eremitage.
Wann immer eine der Damen der Rezeption uns zu Gesicht bekam, strahlte sie über beide Backen und rief: „Ahhhh! Die mit den Fahrrädern!“ Sie waren völlig verblüfft, das jemand mit dem Rad angereist war und reden wahrscheinlich noch heute darüber.

Das Abendessen wurde in einem Speisesaal eingenommen und unsere Gebete waren offensichtlich erhört worden, denn genau an unseren Tisch setzte sich ein älteres amerikanisches Ehepaar, so dass wir ein angeregtes Gespräch auf Englisch führen konnten: Sie war Historikerin mit Schwerpunkt auf französische Geschichte. Als sie erfuhr, dass wir mit dem Rad reisten, war sie hin und weg. Am nächsten Morgen fotografierte sie uns noch mit unseren Rädern, wobei sie strahlend „LES DEUX AMIES!“ ausrief. Er wäre fast Priester geworden und hat im Laufe seines Lebens eine besondere Zuneigung zu Thérèse gefasst. Heute ärgere ich mich, dass ich aus Höflichkeit nicht einfach nachgefragt habe, woher seine Verehrung für sie kam.
Die fünfte an unserem Tisch war eine junge Kroatin, die für einige Monate in Lisieux war, um eine Art Freiwilligendienst in der Basilika zu leisten und den Pilgern zu helfen. (Das hat mir einen ziemlichen Floh ins Ohr gesetzt – so was will ich unbedingt in Italien mal machen. Falls irgendwer von so einer Möglichkeit in einem italienischen Wallfahrtsort weiß, bitte ich um Nachricht!)

Nach dem Essen wurden noch Liedtexte ausgeteilt und man kann katholisch sein oder nicht: Es hat etwas eigenes und seltsam Verbindendes, mit wildfremden Menschen gemeinsam auf französisch das Ave Maria zu singen – während ein anwesender Zisterziensermönch sein Smartphone aus der Kutte friemelte, um den Gesang festzuhalten. (da war er wohl nicht der erste – es gibt ein Video aus dem Jahr 2008 auf youtube).

Ausgeruht, beschwingt und eigentümlich erheitert gingen wir an diesem Abend zu Bett. Wie die kleine Thérèse hatten wir heute vielleicht nichts Großes vollbracht, das dafür aber gut!


Nun weiß ich natürlich, dass ich mit dem Thema „Religion“ eines der berühmten Tabu-Themen berührt habe und – wie gesagt – ich hoffe, gläubigen Thérèse-Verehrern nicht auf die Füße getreten zu sein. Über eure Ansichten und Erfahrungen mit Thérèse würde ich mich in den Kommentaren besonders freuen.
Allerdings wollte ich es nicht ausklammern, weil es hieße, einen wesentlichen Teil meiner persönlichen Erfahrung in Lisieux zu verschweigen.

Noch Reiseliteratur gesucht?*

normandie_219Wie so oft hat uns auch auf dieser Reise ein Reiseführer vom Michael Müller Verlag *begleitet.

Ralf Nestmeyer: Normandie
Michael Müller Verlag, 456 Seiten + herausnehmbare Karte (1:500.000), farbig
ISBN 978-3-95654-218-3
3. Auflage 2016


Alle bisher erschienenen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1: 716km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
#7 Kühe, Käse, Calvados – Mit dem Fahrrad durchs Pays d’Auge
#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen
#9 „Urlaub vom Urlaub“ im wunderschönen Bayeux
#10 D-Day-Feiern an den Landungsstränden. „Where have all the flowers gone?“
#11 Lob der Faulheit
#13 Das Wunder des Abendlandes: Der Mont St. Michel

0 Gedanken zu “#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse

  1. das bild vom strand ist wirklich schön und super, dass dieser planungsabschnitt sich so gut ergeben hat. ich denke, religion muss kein tabuthema sein, sofern man versucht, seine sichtweise so darzustellen, dass man jemand anderen nicht beleidigt – und etwas nicht zu verstehen finde ich durchaus legitim. außerdem gibt es kein richtig und kein falsch, niemand kann beweisen ob es so oder anders ist. man kann nur seinen gefühlen, erfahrungen und ideen ausdruck verleihen.
    sonst kann ich dazu leider nichts sagen, weil ich als überzeugte atheistin leider gar keinen zugang zu derlei dingen hab. ein bisschen beneide ich menschen aber, die für sowas offen sein können…

    • Danke dennoch für deine Meinung und ja, du hast natürlich recht damit. Dennoch weiß ich ja, dass Religion ein sehr sensibles Thema ist und obendrein eigentlich ein Thema, über das ich viel nachdenke (auch wenn ich wahrlich kein Vorzeige-Katholik bin 😉 ) Aber da weicht meine Einschätzung manchmal einfach von weit verbreiteten Einschätzungen ab – wie hier, wo Thérèse offenbar als „leicht zugängliche“ Heilige gilt und ich mich partout frage, warum…

      • ja, das ist es! leider! das liegt aber nur daran, dass viele menschen unsensibel sind und andere scheuklappen vor den augen haben und nicht bereit sind, andere meinungen anzuerkennen.
        ich habe unlängst mit einer freundin von mir über das thema geredet, die gläubige muslimin ist und für die das thema religion auch sehr wichtig ist. erstmal war sie von meiner einstellung total schockiert, aber im laufe des gesprächs hat sie gemerkt, dass wir dennoch zu vielen dingen gar keine so unterschiedliche meinung haben – nur den „ursprung“ der sache sehen wir halt anders.

        also ich weiß genau was du meinst, mit sensiblem thema (und meide es ja auch selbst), finde es aber total schade, dass das so sein muss. denn grade solche diskussionen können sehr bereichernd sein, wenn beide seiten sie zulassen (können).

      • Das finde ich auch. Die besten Unterhaltungen dazu hatte ich mit Leuten, die einen anderen glauben haben. Etwa bei meiner Woche im Kloster mit (angehenden) Ordensleuten etc. Ich finde es spannend zu sehen, wie andere Dinge sehen. Leider nehmen einem auch viele neugierige fragen übel, weil sie sie als „kritisch“ oder „negativ“ auffassen (wahrscheinlich sind viele Nachfragen auch so gemeint, da kriegt man wohl eine dünne Haut), dabei bin ich einfach nur neugierig 😉

      • gerade mit einer Schwester hier auf der Arbeit geredet und wir kamen zufällig auf Thérèse – und siehe da, sie hat sehr ähnliche Gedanken wie ich und das als Klosterschwester.

      • na bitte. oft sind traditionen auch irgendwo sehr regional, vielleicht verehrt man heilige halt in dem ort, von dem sie stammen, besonders und natürlich pilgern dort menschen hin, die für diese heilige besonders etwas übrig haben. das heißt aber noch lang nicht, dass das allgemein so sein muss 🙂

      • na, Thérèse ist tatsächlich sehr international – wohl DIE internationale Heilige der Neuzeit.
        Aber vielleicht liegts daran, dass es eine Maria Ward-Schwester ist – ein Orden, der eher für tatkräftiges Handeln steht als für pure Kontemplation 😉

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mit dem Absenden deines Kommentars erlaubst Du mir das Speichern deines Kommentars, deines Namens, der E-Mail-Adresse (nicht öffentlich) und einer etwaig eingegebenen URL. Nähere Hinweise findest Du hier.