Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel, Teil 7
Die bisher erschienen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1 Mit dem Fahrrad zum Mont St. Michel. 716 km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
Als ich klein war, erzählte mir meine Mutter immer eine Geschichte:
Während Till Eulenspiegel durch die Welt wanderte, fing er jedesmal wenn es bergab ging das Weinen an. Die Leute wunderten sich und fragten: „Aber Till, warum weinst du denn, wenn es bergab geht? Da solltest du dich doch eigentlich freuen!“ „Freuen?“, fragte Till Eulenspiegel. „Wieso sollte ich mich freuen? Wo ich doch weiß, dass es jedes mal, wenn es bergab geht, gleich wieder bergauf gehen muss.“
Ich weiß nicht, ob Till Eulenspiegel jemals im Pays d’Auge war. Seit ich im im Pays d’Auge war, weiß ich auf jeden Fall, wovon er sprach.
Ein stetes Auf und Ab
Besonders zwischen Vimoutiers und Clécy gingen Straßen eigentlich nur dann bergab, um gleich noch einmal steiler bergauf zu gehen. Normalerweise freut man sich, wenn man ewig bergauf gestrampelt ist, dass man einen Berg hinabbrausen kann. Wenn es allerdings nur kurz, aber sehr steil bergauf geht, um gleich darauf kurz, aber ebenfalls steil bergab zu gehen, dann schwindet die Freude; entweder im niedrigsten Gang hochquälen oder einen Krampf in den Fingern während des Bremsens. Immerhin habe ich mal alle 24 Gänge meines Rades ausgefahren!
Keine Ahnung, wie oft wir uns dachten: Diese ganze Strampelei NUR weil wir unbedingt ein Bild von uns mit dem Ortschild von Camembert machen wollten! Wäre diese Idee nicht gewesen, wären wir wohl von Trouville-Deauville aus weiter an der Küste entlang gefahren und hätten uns den ganzen Schlenker nach Süden gespart (siehe Karte – Weiterleitung zu Google Maps). Trotzdem war es gut, dass wir das nicht getan haben!
„Glückliches Pays d’Auge“
„Glückliches Pays d’Auge. Nirgends sind die Wiesen fetter, die Kühe glücklicher. Nirgends blühen die Apfelbäume üppiger, nirgends ist das Fachwerk so herausgeputzt. Kein Wunder, dass der Landstrich unter Ferienhausbesitzern so beliebt ist. Sanft wogen die Hügel dahin“, so sang unser Reiseführer* sein Loblied auf diesen Landstrich.
Die „sanft dahinwogenden Hügel“ kann man sicher ohne Rad etwas besser wertschätzen, aber nichtsdestotrotz ist die Lieblichkeit der Landschaft nicht zu bestreiten.
Und wie sagte ein Schotte, den wir in Falaise treffen sollten und der mit einigen Freunden radelnderweise unterwegs war: „The hills! That’s what we paid for, no? Without hills there is no view!“
Die Hügel waren zwar wahrlich nicht das, wofür wir gezahlt hatten, aber dem zweiten Teil der Aussage konnten wir nicht widersprechen.
Auf der Route des fromages
Doch bevor wir diese Erkenntnis erlangen und uns eingestehen konnten und bevor wir den tiefsinnigen Schotten überhaupt trafen, galt es von Lisieux aus die Route des fromages entlang zu fahren.
Bekannt ist bei uns vor allem der Camembert, aber in Wirklichkeit sind des vier Käsesorten, die jedem Aufenthalt in der Normandie ihren einzigartigen Geschmack (und Geruch!) aufdrücken: Neufchâtel, Pont l’Évêque, Camembert und Livarot. Die letzten drei entstammen den gleichnamigen Orten im Pays d’Auge.
Unsere Tour begann gleich nach Lisieux mit einem gewaltigen Anstieg – bei besten Regenaussichten (tatsächlich setzte bald Sprühregen ein) – was wir leider auch wussten. Die Karte und das GPS verrieten, dass all das bisherige Auf und Ab nur ein Vorgeschmack gewesen war. So rangen wir uns ein Lächeln ab für das Erinnerungsfoto unserer amerikanischen Tischnachbarin und radelten unter vielem Gewinke und „God bless you“-Rufen aus Lisieux. Ein letzter Blick auf die Herzlichkeit, die an diesem Ort vorherrschte.
Unser Ziel für diesen Tag war Vimoutiers, unweit von Camembert. Als wir nicht sehr weit nach Lisieux, nach Erklimmen des Hügels im Sprühregen, ein Schild „Vimoutier 21km“ entdeckten, waren wir verblüfft. 21km?? Das kann doch kaum sein? Wir glaubten es zwar nicht, aber es machte uns trotzdem Hoffnung – dass wir schon mehr hinter uns gebracht hatten, als wir glaubten. Zudem fuhren wir nun auch noch über eine Hochebene – was für ein Luxus! – und das kurz bis vor Livarot. Von da an ging es – tendenziell – bergab. Ab Livarot sollte es dann sowieso einen Voie verte geben.
Zuerst wurde aber die Fromagerie E. Graindorge in Livarot besichtigt, wo es ein Museum gab, in dem man durch große Glasfenster bei der Käseherstellung zusehen konnte. Wir kamen nicht umhin, uns zum Mittagessen mit Käse einzudecken (die französische Vorstellung davon, was ein „kleiner Käse“ ist, wich allerdings massiv von unserer ab).
Über den geschotterten Wald- und Wiesenradweg war auch Vimoutiers bald erreicht – inzwischen hatte es sogar aufgehört zu nieseln. Wir quartierten uns im Hotel Solei d’Or ein, wo wir unser Gepäck ließen und im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert eine erneute Berg- und Talfahrt nach Camembert auf uns nahmen. Wieviel leichter es sich doch ohne Gepäck radeln ließ!
Camembert ist überraschenderweise trotz des weltberühmten Namens noch immer so ein Kaff wie zu Zeiten der Revolution: Eine Kirche, eine Mairie und eine handvoll Höfe. Heute gibt es noch das „Maison du Camembert“ – ein unpassend modernes Gebäude, das wohl einem Käse nachempfunden ist.
Trotz allem konnte man hier wahrscheinlich noch immer untertauchen, wie damals, als Marie Harel hier einen Priester vor den Revolutionären verbarg, der sie daraufhin in die Kunst der Käseherstellung einführte.
Ohne Hügel keine Aussicht
Käse gab es dann wieder zum Abendessen in Vimoutier – diesmal gebacken! – und beim Rückblick auf unseren ersten Tag im Pays d’Auge stellten wir fest, dass er nicht so furchtbar und anstrengend gewesen war, wie wir befürchtet hatten. Manchmal ist es doch gut, sich auf das Schlimmste einzustellen – wenn es dann nicht eintritt, ist alles halb so wild. Und wenn es – wie an unserem zweiten Tag im Pays d’Auge – dann doch eintritt, ist man psychisch wenigstens vorbereitet.
Psychische Vorbereitung ist das eine. Das tatsächliche Durchstrampeln der Hügel das andere. Nach Vimoutiers fand ich die Anstiege einfach nur ätzend (Ich sage nur: Crouttes! – ein kleines Kaff kurz nach Vimoutiers, dessen einziges Alleinstellungsmerkmal ist, dass man beim Durchqueren mehrere steile Anstiege und Gefälle hinter sich bringen muss). Mehrfach hatten Sabine und ich die Idee, einfach das idyllisch gelegene Fachwerkhaus, das auf halber Strecke bergauf stand, zu kaufen und uns spontan dort hiederzulassen, nur damit wir nicht weiter bergauf mussten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir erst 13km weit gekommen. Wie frustrierend!
Aber dann bewahrheiteten sich die Worte des Schotten, den wir erst ein paar Stunden später treffen sollten: Ohne Hügel, keine Aussicht.
Auf einmal, gleich hinter St. Gervais des Sablons, tat sich vor uns ein weiter wunderschöner Blick ins Land auf, so dass wir anhalten mussten, um ihn sprachlos zu genießen. Ein weiter Blick ins Land hieß auch, dass es keine Hügel mehr gab, die uns den Blick verstellten und in uns keimte die Hoffnung auf, dass es ab nun flacher werden könnte.
Heute weiß ich, dass dies die Ebene um den Fluss Dives war. Und tatsächlich bekamen wir jetzt den Lohn für unsere Mühen: Kilometerweit rollten wir gemütlich den Berg hinab. Die Hügel wurden sanfter, die Anstiege flacher, die Weiden wichen mehr und mehr Weizenfeldern. Und Radfahren machte wieder Spaß – trotz Gegenwind.
Die Kühe der Normandie
Nun habe ich schon so viel über die Normandie geschrieben, ohne die Kühe zu erwähnen. Die normannischen Kühe sind großartig! Wohl deswegen nutzt Heula sie so gerne in seinen Comics. Man erkannte sofort die Unterschiede in der Reaktion zwischen den Kühen, die Touristen gewohnt waren, und denen im Hinterland.
Besonders letztere , denen wir am häufigsten begegneten, interagierten immer mit uns. Meist hielten sie nur im Wiederkäuen inne und blickten uns nach (die gesamte Herde synchron, wohlgemerkt!), einmal reagierte eine Kuh sehr verärgert, als wir anhielten, um ihre Kälbchen zu fotografieren und gab erst Ruhe, als wir uns aus dem Staub machten. Oft kamen sie direkt an den Zaun, um uns zu begutachten und bei der Abfahrt von St. Gervais des Sablons erhob sich eine komplette (!) Kuhherde und rannte auf der Weide neben uns her, bis der Weidezaun sie aufhielt. Gleichgültig waren wir nur denen, die Fremde offenbar gewohnt waren.
Wo Wilhelm der Eroberer (möglicherweise) geboren wurde
Falaise wollte sich lange nicht blicken lassen, obwohl wir genau wussten, dass es direkt vor uns liegen musste. Wir erreichten es schlussendlich doch und fanden auch den Campingplatz, der wirklich im Schatten der Burg lag und auf dem kurz nach uns eine Gruppe von Briten eintraf, die von Ouistreham nach Falaise geradelt war und am nächsten Morgen wieder die Heimreise antrat. Zu dieser Gruppe gehörte auch der vielzitierte, tiefsinnige Schotte.
Seit dem Abend in Falaise lebten wir in ständiger Angst, unser Zelt könnte seinen Geist aufgeben, denn an diesem Tag wollte es sich partout nicht richtig aufstellen lassen. Zwei Stangen knickten immer wieder ein, so dass einige Stellen überspannt waren, andere zu wenig straff. Trotz mehrfachen Nachjustierens ließ sich das nicht beheben und als dann Schauer einsetzten blieb nur Hoffen und Beten, dass es halten möge.
Es war schon relativ spät, als wir zu einem Bummel durch Falaise aufbrachen, dass uns mit seinen steinernen Häusern sehr britisch und mittelalterlich erschien. Dass es 1944 zerstört wurde, kann man an einigen Stellen kaum glauben. Die Burg ist wuchtig und beherrscht die Stadt. „Der Legende nach“, so schreibt unser Reiseführer*, kam hier Wilhelm der Eroberer zur Welt. In Falaise ließ man daran natürlich keinen Zweifel und präsentierte sich selbstbewusst als Geburtsort des großen Normannenherzogs.
Noch Reiseliteratur gesucht?*
Wie so oft hat uns auch auf dieser Reise u.a. ein Reiseführer vom Michael Müller Verlag *(Affiliatelink) begleitet.
Ralf Nestmeyer: Normandie
Michael Müller Verlag, 456 Seiten + herausnehmbare Karte (1:500.000), farbig
ISBN 978-3-95654-218-3
3. Auflage 2016
*Zitat aus: Simon, Klaus: Normandie. Dumont Reise-Taschenbuch, Ostfildern 2006, S. 145.
Alle bisher erschienenen Artikel über unsere Normandie-Reise:
#1: 716km durch die Normandie
#2: Der Weg ist das Ziel – oder so
#3: Normannischen Boden unter den Rädern. Ankunft in Rouen
#4: Verfallene Größe und idyllische Landstraßen. Mit dem Rad durch’s Seinetal
#5: Vom Seinetal an die Blumenküste. Klangvolle Namen, Geisterstädte und saftige Wiesen
#6 Lisieux. Ein fauler Tag mit dem Segen der heiligen Thérèse
#7 Kühe, Käse, Calvados – Mit dem Fahrrad durchs Pays d’Auge
#8 Von Falaise durch die Normannische Schweiz nach Caen
#9 „Urlaub vom Urlaub“ im wunderschönen Bayeux
#10 D-Day-Feiern an den Landungsstränden. „Where have all the flowers gone?“
#11 Lob der Faulheit
#13 Das Wunder des Abendlandes: Der Mont St. Michel
*Affiliatelink. Auf dieser Seite verwende ich mitunter Affiliatelinks, die mit einem * gekennzeichnet werden. Wenn Du diesem Link folgst und darüber eine Buchung oder Bestellung tätigst, dann erhalte ich eine kleine Provision. Für dich verändert sich nichts, aber du kannst damit indirekt meine Arbeit an diesem Blog unterstützen.
ohje, dieser abschnitt wäre garantiert mein persönlicher alptraum gewesen. aber es hört sich alles so wunderbar französisch an, das gefällt mir. auch wenn ich nie ein freund von weichkäse sein werde 😉
haha, ich brauchte ihn dann auch ne Weile nicht mehr 😀 Wir hatten einen in unserer „Kühltasche“, die stank bis zum Ende der Reise nach diesem Camembert. Egal, wo die Tasche stand – die Ecke des Zimmers stank immer 😀
Es war einerseits ein Alptraum, andererseits aber auch wunderschön 🙂