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Bei meinem Ausflug in die Basilikata wollte ich unbedingt auch dem kleinen Ort Aliano einen Besuch abstatten.
Das Dorf liegt auf 555 m, gerade außerhalb des Alta Val d’Agri (also des höheren Teils des Tales des Flusses Agri), wo wir den Großteil unserer Tage in der Basilikata verbrachten. Aliano hat nicht einmal 900 Einwohner und wahrscheinlich würde niemand außerhalb des direkten Umlandes den Namen dieses Dorfes kennen, hätte nicht 1945 ein gewisser Carlo Levi aus Turin es unsterblich gemacht!
Carlo Levi, Arzt, Maler und Schriftsteller aus Norditalien, wurde in den 1930er Jahren aufgrund seiner antifaschistischen Tätigkeiten von der faschistischen Regierung verbannt – und zwar in den kleinen Ort in der Basilikata. Darüber schrieb er seinen autobiografischen Roman, bzw. seine Memoiren, „Christus kam nur bis Eboli“, in dem er Aliano – verklausuliert als „Gagliano“ – ein literarisches Denkmal setzte.
Bis heute bewahrt man Levis Andenken in Aliano in der Basilikata und erinnert sich seiner offensichtlich mit großer Sympathie.
Inhalt
Ja, es war absolut und hundertprozentig meine Idee, bei unserer Reise in die Basilikata, Aliano zu besuchen. Ein Kollege, der mich begleitete, hatte das Buch nie gelesen. Der andere, der uns auf dieser Reise mit in seine Heimatregion genommen hatte, hatte Aliano schon sicher ein dutzend Mal besucht. Mir zuliebe machten wir auf dem Weg zum Strand am Ionischen Meer einen Stopp in Aliano.
Zugegeben: Ich war auch absolut und hundertprozentig von uns dreien die Einzige, die völlig begeistert war. Ich hätte noch Stunden hier verbringen können. Meine Kollegen bummelten zwar mit mir durch die Gassen, waren aber doch etwas gelangweilt und bestaunten dann lieber einige Bussarde, die über den Schluchten kreisten, während ich vergnügt mit Kamera und Buch bewaffnet durch die Gassen stürmte und die Schauplätze aus „Christus kam nur bis Eboli“ zusammensuchte.
Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht, wenn ich euch bei diesem Bummel hier mitnehme. Und vielleicht kann ich euch ja sogar Lust darauf machen, das Buch auch einmal zu lesen und den Schauplatz – Aliano in der Basilikata – aufzusuchen.
Wer war Carlo Levi?
Carlo Levi, geboren am 29. November 1902 in Turin und gestorben am 4. Januar 1975 in Rom, war Arzt, Maler und Schriftsteller.
Er entstammte einer großbürgerlichen, jüdischen Familie aus Turin und studierte zuerst Medizin, arbeitete auch für einige Jahre als Arzt, doch bald bemerkte er, dass seine Leidenschaft eher bei der Kunst lag – und bei der Politik. Er begann zu malen und engagierte sich in liberalen politischen Gruppen, zum Beispiel der Rivoluzione liberale („Liberale Revolution“).
1929 wurde die antifaschistische Widerstandsgruppe Giustizia e Libertà („Gerechtigkeit und Freiheit“) von einigen italienischen Widerstandskämpfern in Paris gegründet. Carlo Levi war bereits in der Frühzeit in dieser Gruppe aktiv – zuammen mit den Brüdern Carlo und Nello Rosselli, die die Gruppe gegründet hatten und 1937 in Frankreich von Faschisten ermordet wurden. Ein weiteres prominentes Mitglied war Leone Ginzburg, der 1944 nach Folter durch die Gestapo in Rom starb.
1936 wurde er im Rahmen einer Generalamnestie – zur Feier des italienischen Sieges im Abessinienkrieg – vorzeitig begnadigt und ging nach Paris ins Exil, wo er sich erneut antifaschistisch betätigte.
1941 kehrte er nach Italien zurück, wurde erneut inhaftiert und nach dem Sturz Mussolinis 1943 freigelassen. Er versteckte sich in Florenz in oder in der Nähe des Palazzo Pitti und schrieb dort sein berühmtestes Buch „Christus kam nur bis Eboli“ (italienisch „Cristo si è fermato a Eboli„), das 1945 publiziert wurde.
Nach dem Krieg zog Levi nach Rom, wurde später Mitglied des Senats, malte weiterhin und schrieb weitere Bücher. 1975 starb er in Rom an einer Lungenentzündung.
Sein Versprechen an die Bauern, nach Lukanien zurückzukehren, konnte Levi erst spät einlösen. 1960 zum Beispiel reiste er durch die Basilikata. Einige Bilder dieses Besuchs kann man bei RAI sehen.
Levis Einfluss auf die Basilikata zeigte sich noch an einem anderen Beispiel: Der Felsenstadt Matera, einer der ältesten Städte Italiens. Levi beschrieb die katastrophalen hygienischen und sozialen Zustände in den Sassi der Stadt, in denen die Ärmsten wohnten: Kinderreiche Bauernfamilien, halbverhungert, verdreckt und an Malaria erkrankt.
Nach der Publikation des Buches wurde Matera als „Schande der Nation“ in Italien berühmt und in den 1960er Jahren wurden die Bewohner der Sassi in moderne Wohnhäuser umgesiedelt – wahrlich nicht immer freiwillig. Viele verließen nur gezwungenermaßen ihre Höhlenwohnungen. Aber möglicherweise hätte Matera nicht eine solche Wiederauferstehung feiern können, wäre damals nicht eingeschritten worden. Heute sind die Sassi sauber und herausgeputzt. Matera ist ein Schmuckstück, UNESCO Weltkulturerbe und das touristische Aushängeschild der Basilikata.
Von den Zuständen wie in Dantes Inferno, mit dem Levi die Sassi in seinem Buch vergleicht, ist heute nichts mehr zu sehen.
Carlo Levi und Aliano in der Basilikata
Mit diesen Worten setzt „Christus kam nur bis Eboli ein“. In Wirklichkeit kam Carlo Levi offenbar im September nach Aliano.
Carlo Levi kam natürlich „ungern“ nach Aliano. Nicht nur, weil er ein Konfinierter – ein Verbannter – war, der das städtische Leben in Turin und Paris gewohnt war. Sondern auch, weil er sich mit dem Städtchen Grassano gerade arrangiert hatte. Grassano war größer, etwas städtischer, besser angebunden, belebter. Und es hatte – so beschreibt Levi – im Gegensatz zu Aliano „eine zahlreiche Mittelklasse“ (S. 147). Es gab Geschäfte und Stände von fliegenden Händlern (S. 148). All diese Dinge gab es in Aliano nicht.
Aliano, das damals etwa 2000 Einwohner hatte, war im Gegensatz zu Grassano (mit damals etwa 7000 Einwohnern) ein Kaff.
Levi beschreibt, wie sich eine gelangweilte, frustrierte provinzielle Oberschicht ihre Zeit mit neidischem Ränkeschmieden vertrieb:
Levi war für die Oberschicht Alianos nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern auch ein Instrument in ihren eigenen Ränkespielen. So setzte die Schwester des Bürgermeisters alles daran, mit dem eben eingetroffenen – wenn auch unerfahrenen – Arzt Levi ihren alten Rivalen, Dr. Gibilisco, auszustechen.
Carlo Levi, der nach nur wenigen Jahren als Assistenzarzt, die Medizin gänzlich beiseite gelegt und seit Jahren nicht mehr praktiziert hatte, sah sich in Aliano plötzlich in die Rolle des Arztes gedrängt. Nicht nur aufgrund der Ränkespiele der Oberschicht, sondern auch, weil die Bauern – die die zweite gesellschaftliche Schicht Alianos bildeten – gleich von Beginn an Vertrauen in ihn fassten. Die beiden Ärzte des Ortes waren offensichtlich Stümper und die Bauern erhofften sich nun Hilfe bei Krankheiten, v.a. bei der allgegenwärtigen Malaria.
Carlo Levi praktizierte also in Aliano als Arzt. Erst offen, später nach einem behördlichen Verbot, nur noch heimlich. Er lernte die Bauern Alianos kennen und lieben. Er half ihnen, wo er konnte, kurierte, wo es möglich war, und linderte doch die Leiden, wenn auf eine Heilung nicht mehr zu hoffen war. So beschreibt er es selbst in seinen Memoiren. Dass dies wohl nicht einfach eitle Übertreibung ist, zeigt sich daran, dass Aliano diesen Mann aus dem Norden in so guter Erinnerung behielt. Die Oberschicht, die in Levis Roman ihr Fett weg bekam, deren Schwächen und Eitelkeiten und Bosartigkeiten er mit spitzer Feder beschrieb, war es sicher nicht, die sein Andenken bewahrt sehen wollte.
Es waren die Bauern, die einfachen Menschen, die für ihn auf den ersten Blick „alle gleich [erschienen waren], klein, sonnenverbrannt, mit schwarzen Augen, die nicht glänzen und nicht zu blicken scheinen, wie leere Fenster in einem dunklen Zimmer.“ (S. 72) Für sie war Levi ein guter Mann, der nicht auf sie herabsah und der ihnen half. Und natürlich hatte er in ihren Augen als Doktor und als Fremder auch eine gewisse Autorität.
Und auch andersherum: Sie begegneten ihm nicht verächtlich, weil er verbannt war. Er war einer, der unter denen in Rom litt – so wie sie. Rom war für sie weit weg. Dort wurden Gesetze gemacht, die mit der Lebenswirklichkeit in Lukanien nichts zu tun hatten. Der Staat – so beschreibt es Levi – war für die lukanischen Bauern etwas, was sie nichts anging, was sie nur betraf, wenn wieder einmal seltsame Bestimmungen umgesetzt wurden, die man hilflos über sich ergehen lassen musste. Wer dort jetzt gerade regierte, war ebenso nicht so wichtig. Und wenn jemand von denen dort in Rom verbannt wurde, dann war er in gewisser Weise einer von ihnen:
In Aliano gab es mehr Konfinierte – doch es war ihnen verboten, miteinander zu sprechen. Nur über Umwege konnten sie miteinander Umgang pflegen.
So beschreibt Levi, wie zwei Konfinierte sich gemeinsam das Essen teilten, ohne sich je zu Gesicht zu bekommen: Indem einer von ihnen kochte und schließlich einen Teller auf ein Mäuerchen an der Piazza stellte und dem anderen mit einem Pfiff signalisierte, dass er sich sein Essen holen konnte.
Levi schreibt viel über „die Bauern“ Alianos. Doch der Ort – wie viele weitere in Lukanien in dieser Zeit – war fest in der Hand der Frauen:
Während der Weltwirtschaftskrise von 1929 kamen allerdings zahlreiche „Amerikaner“ zurück in die Heimat – was sie später meist bitterlich bereuten – und schlugen sich hier mehr schlecht als recht durch.
Doch auch die Männer, die in Aliano lebten, waren tagsüber fern: Sie waren auf den Feldern und „der Ort ist den Weibern überlassen, diesen Vogelköniginnen, die über das Gewimmel ihrer Kinder herrschen.“ (S. 91)
Neben den Bauern sind es deshalb die Kinder und Frauen, denen Levi in seinem Buch besondere Aufmerksamkeit schenkt. (Das alles darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier patriarchalische Vorstellungen von Ehre noch immer vorherrschten. So muss seine Haushälterin Julia ihren Dienst bei Levi quittieren, weil ihr Liebhaber ihr droht, sie umzubringen, wenn sie weiter bei einem Mann arbeitet)
Von den Frauen und Kindern keine Spur, als ich im Sommer 2024 durch die Gassen Alianos schlendere. Wie ich es so oft in kleinen Dörfern Italiens erlebte, so sind auch hier die Plätze vor den Bars bevölkert von alten Männern, die mich mit neugierigen Augen beobachten und freundlich lächelnd grüßen. Selten habe ich so oft auf einer Strecke von gerade einmal 50 Metern wildfremde Menschen gegrüßt, wie hier in Aliano. Carlo Levis literarisches Vermächtnis genügte bisher offenbar nicht, um genug Touristen anzuziehen, als dass ich als Fremde hier nicht auffallen würde.
Auf dem Blog Reiseschreibe findet ihr einige Bilder aus Aliano um 2000. Bei meinem Besuch sah es sehr ähnlich aus.
„Christus kam nur bis Eboli“: Was bedeutet eigentlich der Titel des Buches?
Der Titel des Buches erscheint etwas kryptisch. Ich erinnere mich, dass ich es als Kind oft im Bücherregal meiner Großeltern stehen sah und mit diesem Titel überhaupt nichts anfangen konnte. Er wirkte auf mich seltsam. Und tatsächlich wäre es schwierig, vom Titel auf den Inhalt des Romans zu schließen.
Doch warum heißt das Buch „Christus kam nur bis Eboli“?
Eboli ist eine Kleinstadt, die in den 1930er Jahren etwa 15.000 Einwohner hatte, und liegt 30 km südöstlich von Salerno.
Wer von Rom oder Neapel aus kommend in die Basilikata fährt, kommt noch heute an Eboli vorbei.
Und genau bis hierher, so sagten die Bauern Lukaniens, kam Christus. Nicht einen Schritt weiter. Das Christentum schaffte es – gemäß dieses geflügelten Wortes – niemals gänzlich bis nach Lukanien. Es blieb in Rom, Neapel, an der Küste und im Norden. Und mit dem Christentum meinen sie, wenn man so will, die Zivilisation, die Staat und Religion bringen.
Der Satz „Christus kam nur bis Eboli“ (im Italienischen: Cristo si è fermato a Eboli) bedeutet, dass das, was die Welt jenseits der lukanischen Berge bewegt und prägt, nie bis hierher vorgedrungen war. Dass die Uhren hier anders tickten, die Menschen sich seit ewigen Zeiten mit denselben Dingen herumschlugen – mit Hitze, Trockenheit, Hunger und Malaria – völlig unabhängig davon, welches Regime gerade herrschte, ob es Normannen, Bourbonen oder Faschisten waren. Es war eine Gegend Italiens, über die die Geschichte „hingeglitten war, ohne sie je wirklich zu berühren.“ (S. 125)
Und so war auch das Leben der Menschen, das Levi beschreibt, geprägt von einem Volksglauben, der mehr als nur ein paar Spuren magischen Denkens enthielt, der mehr heidnisch als christlich war. Zaubersprüche und Hexentränke waren normaler Teil der Volksmedizin. Liebestränke wurden gemischt und Flüche mit magischen Handlungen abgewehrt.
Und auch die hochverehrte schwarze Madonna von Viggiano war nicht die „barmherzige Mutter Gottes, sondern eine unterirdische schwarze Gottheit im Schoß der Erde, eine bäuerliche Proserpina, eine höllische Erntegöttin.“ (S. 105) Ihr zu Ehren wurden Prozessionen veranstaltet, damit sie es regnen und die Früchte auf den Feldern nicht verdorren lasse:
Diese schwarze Madonna ist wie die Erde: sie kann alles vollbringen, zerstören und Blüten hervortreiben, aber sie kümmert sich um niemanden und lässt die Jahreszeiten nach ihrem unerforschlichen Willen abrollen. Die schwarze Madonna ist für die Bauern weder gut noch böse: sie ist viel mehr. Sie lässt die Ernten verdorren und tötet, aber sie nährt und beschützt auch und man muss sie anbeten.“S. 108
In diesem Sinne, so schreibt Levi, seien die Bauern dort keine Christen gewesen. Denn Christus und alles, was mit ihm zusammenhängt, sei eben in Eboli stehen geblieben, 140 km entfernt von Aliano.
Einige Schauplätze des Buches in Aliano
Die Mondlandschaft der Calanchi
Das erste, was ich aus dem Buch wiedererkenne, ist die Landschaft. Als wir uns die kurvenreiche Straße hinaufschrauben, noch bevor wir Aliano überhaupt zu Gesicht bekommen, sehe ich diese Landschaft:
Es sind die „Calanchi“ (sprich: „Kalanki“ – singular: Calanco), die Levi hier beschreibt. Das geomorphologische Phänomen, das ich hier zu sehen bekomme, wird im Englischen als „Badland“ – also „schlechtes Land“ – bezeichnet und kommt weltweit in sehr trockenen Gebieten vor.
Es handelt sich dabei um steile Hänge mit wenig Vegetation und lockeren Sedimenten – im Falle der lukanischen Calanchi ist es v.a. Lehm – die sehr anfällig sind für Erosion. Seltene, aber dafür starke Niederschläge hinterlassen tiefe Furchen im Gestein, was dem Ganzen das Aussehen der von Levi beschriebenen Mondlandschaft gibt.
Wir stehen erst einmal sprachlos. Ähnliche Felsformationen kann man auch an anderen Orten – auch in Italien bewundern (z.B. rund um Cività di Bagnoregio im Latium), aber der Ausblick hier ist wirklich unglaublich.
In den Calanchi bei Aliano gibt es auch einige Wanderwege, die nach Personen aus Levis Buch benannt sind (ihr findet die Wanderwege mit gps-tracks zum Download auf dieser Seite). Eigentlich ist es ein bisschen zynisch, die Wanderwege in den Calanchi nach Levi und Figuren aus seinem Buch zu benennen – denn Levi durfte während der Monate seines Exils Aliano nicht verlassen. Am Ortsausgang endeten alle seine Spaziergänge.
Nur ein einziges Mal beschreibt er in „Christus kam nur bis Eboli“ wie er mit einem Bauern zu einem Pachthof am Agri zu dessen sterbendem Bruder gehen durfte, um ihm als Arzt beizustehen. Dabei durchquerte Levi auch die Landschaft der Calanchi:
Beschreibung Alianos bei Carlo Levi
Levi zeichnet Aliano in allen Farben der Trostlosigkeit:
Ich gestehe, dass Aliano sehr viel pittoresker war, als ich es mir nach Levis Beschreibungen vorgestellt hatte. Aber im Gegensatz zu Levi verbrachte ich auch nur etwa eine Stunde hier und war hier nicht unter Aufsicht konfiniert. So konnte ich die „idyllische Ländlichkeit“ durchaus genießen, als ich die durch die Gassen bummelte.
Die Orte, die in Levis Buch eine Rolle spielten, sind jeweils mit kleinen Plaketten versehen, auf denen die Beschreibungen aus „Christus kam nur bis Eboli“ vermerkt sind:
Der Ort klebt wirklich auf einem Grat zwischen zwei Schluchten, auch wenn es fast unmöglich war, dies vernünftig auf ein Bild zu bannen. An der schmalsten Stelle, an dem „Punkt, wo die beiden Schluchten von rechts und links keinen Raum mehr für Häuser ließen“ (S. 45), liegt heute die Piazza Carlo Levi mit einem Denkmal für den berühmtesten Besucher des Ortes.
Das Gebiet rund um Aliano war nicht (mehr) ganz so baumlos, wie Levi es beschrieb. Es war sogar überraschend grün – sehr viel grüner, als ich es nach Levis Beschreibungen erwartet hatte. Waren diese Bäume erst gepflanzt worden oder hatte Levi – der zwischen September und Mai in Aliano war – es einfach weitaus karger und trister in Erinnerung behalten?
Insgesamt wirkte Aliano auf mich so, als sei hier in den letzten Jahren sehr viel renoviert worden. Viele Häuser erschienen mir frisch hergerichtet und lediglich ein Eck stach mit seinen verfallenen Häusern auffällig heraus:
Das Haus der Witwe
Die erste Zeit nach seiner Ankunft in Aliano wohnte Levi im Haus einer Frau, die nur als „die Witwe“ bezeichnet wird. Es lag am oberen Dorfrand, unweit der Kirche und ist heute eine Bäckerei, an deren Tür ein Bild von Carlo Levi prangt.
Der Mann der Witwe erlag – so sagte man in Aliano – den Giftmischereien einer Dorfhexe, deren Geliebter er gewesen war (aber natürlich nur, weil die Hexe ihn mit Liebestränken gefügig machte!). Die Witwe blieb mit dem Sohn zurück und besserte ihr Einkommen auf, in dem sie ein Zimmer vermietete.
Levi beschrieb sie folgendermaßen:
Das Haus Carlo Levis („Casa di confino di Carlo Levi“)
Die meiste Zeit seines Exils lebte Levi allerdings am unteren Ortsrand von Aliano in einem überraschend stattlichen, heute fein herausgeputzten Haus mit einer großen Terrasse.
Heute befindet sich hier ein Museum, das bei unserem Besuch leider geschlossen hatte, da es Montag war.
Deshalb blieb mir auch der Blick von Levis Terrasse verwehrt, den er in „Christus kam nur bis Eboli“ so eindrücklich beschreibt – und ich musste mich mit dem vergleichbaren Blick zwei Stockwerke tiefer begnügen (was mir allerdings nicht den von Levi beschriebenen Rundumblick bescherte):
Die Piazza und der Bersaglieregraben
An der Piazza spielte sich das gesellschaftliche Leben ab. Hier trafen sich die „Signori“ am Abend, um zu sehen und gesehen zu werden. Und hier mischte sich auch Carlo Levi, mehr oder weniger widerwillig, unter die besseren Leute.
Bei unserem Besuch lag die Piazza völlig verlassen und einsam. Heute ist hier eindeutig nicht mehr der Mittelpunkt des dörflichen Lebens. Erst als ich nach Ober-Aliano, den höher gelegenen, nördlichen Teil des Dorfes, kamen, sah ich plötzlich eine Menge Leute auf der Straße. Allesamt – wie bereits oben erwähnt – ältere Herren.
Auf der Piazza steht auch ein Brunnen. Ein Schild verweist auf die Beschreibung aus „Christus kam nur nach Eboli“. Allerdings steht im Buch der beschriebene Brunnen nicht direkt auf der Piazza.
Hatte Carlo Levi es falsch in Erinnerung und hat den Brunnen versehentlich an der falschen Stelle lokalisiert? Hat man – da der andere Brunnen nicht mehr existierte – in Aliano einfach diesem Brunnen die Beschreibung aus dem Roman zugeordnet? Ich kann es nicht wirklich ergründen.
Das Postamt
Don Cosimino ist einer derjenigen Bewohner Alianos, die in Carlo Levis Buch am besten wegkommen. Er bezeichnet ihn als „bucklige[n] Engel“ (S. 48). Don Cosimino ließ, wenn es ihm möglich war, Levi die einkommende Post schnell lesen, bevor sie an den Bürgermeister und den Carabiniere zur Zensur kamen. Er kündigte ihm auch an, dass Nachrichten aus Matera erwartet wurden, die möglicherweise auch den Befehl für seine Freilassung enthalten könnten.
Der Friedhof
Ausführlich beschreibt Carlo Levi seine Besuche auf dem Friedhof in Aliano. Er war nicht nur die äußerste Grenze des Raumes, in dem sich Levi frei bewegen konnte, sondern bot mit seinen „paar Bäumen [auch]eine gewisse Abwechslung in der Geometrie der Elendshütten“ (S. 66).
Hierher kam Levi, um zu malen. Hier führte er Gespräche mit dem alten Gemeindeausrufer und Totengräber, der mit den Wölfen kommunizieren und sie seinem Willen unterwerfen konnte. Und Levi kam hier her, um im Schatten der Bäume – oder auch im kühlen Schatten eines gerade ausgehobenen, noch leeren Grabes – auszuruhen.
An diesem Ort der „Einsamkeit und Freiheit“ wurde Levi auf eigenen Wusch nach seinem Tod beigesetzt.
Leider hatte ich bei meinem kurzen Besuch nicht die Zeit, um den Friedhof zu besuchen – Grund genug, um irgendwann noch einmal nach Aliano zu kommen und – nach jüdischer Sitte – einen Stein auf sein Grab zu legen.
Offenlegung:
Die Reise in die Basilikata wurde selbständig organisiert und finanziert.
Ich verwende in diesem Artikel sogenannte Affiliatelinks, die mit einem * gekennzeichnet sind. Wenn ihr über einen dieser Links eine Bestellung tätigt, erhalte ich eine kleine Provision.Die Seitenzahlen beziehen sich auf folgende Ausgabe des Buches in Übersetzung von Helly Hohenemser-Steglich: Levi, Carlo: Christus kam nur bis Eboli, 1. Auflage, München DTV, 1982.
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Sehr schöne Beschreibungen!!! Gratuliere!!!
Ich danke Dir. 🙂
Ja, man muss dieses Buch kennen und lieben (ich kenne niemanden, der es gelesen hat und nicht mochte) um diesen Ort erfassen zu können, sich inspirieren und faszinieren zu lassen. Sonst hat es wohl wenig Zweck.
Das Buch ist der Schlüssel, den Ort zu verstehen und der Ort der Schlüssel dieses Buch vollständig zu begreifen.
Vielen Dank, dass Du uns mitgenommen hast und vielen Dank für den Stubser, „Christus kam nur bis Eboli“ wieder mal zu lesen.
Das ist wohl wahr. Umso froher bin ich, dass die beiden doch mitgekommen sind (einer kannte das Buch natürlich, aber auch den Ort…)
Ich hoffe, dass ich noch einmal hinkann, um das Museum zu besichtigen und auf den Friedhof zu gehen.
Für jeden Fan des Romans eine Fundgrube – toll beschrieben und recherchiert – und wunderbare Zitate, die einen mit ihrer Wucht sofort wieder packen und daran erinnern, warum man sich von diesem Buch so hat einfangen lassen. Last but not least schöne Fotos, die auch ein heutzutage pittoreskes „Gagliano“ nachvollziehbar machen und (siehe das Foto mit dem türkisen Rolladen) schon für sich sprechen. Museum und Grab würde ich auch sofort besuchen. Danke Ilona!
Danke Dir, ich freue mich, wenn Dir der Artikel gefällt 🙂
Auf Carlo Levi sind wir auf unserer Reise durch die Basilikata erstmals aufmerksam geworden. Ich habe es allerdings immer noch nicht geschafft, das Buch zu lesen.
Danke für den hochinteressanten Bericht, der mich wieder daran erinnert hat, dass das noch auf meiner Liste steht.
Liebe Grüße Gina
Ich kanns nur empfehlen. Es ist wirklich ein gutes Buch! Ich habs jetzt zwei Mal gelesen 🙂 Schön, wenn ich dir Lust drauf machen konnte, es doch noch mal zu lesen.